Wirtschaft, Politik und Wissenschaft streiten über getrennten Unterricht
Wenn die Pause an der Frankfurter Kerschensteinerschule vorbei ist, gehen Mädchen und Jungen eigene Wege. Die Schüler der neunten und zehnten Klasse pauken getrennt für ihre Haupt- und Realschulabschlüsse. Um die Leistung in beiden Gruppen deutlich zu verbessern, hatte sich das Kollegium vor drei Jahren zu diesem Modellversuch entschlossen.
"Das Lernklima ist leistungsfördernder, weil beide Gruppen nicht mehr so viel Energie darauf verwenden müssen, sich abzugrenzen", lautet eine erste Bilanz von Schulleiterin Sabine Bartsch. Die Jungs seien wesentlich motivierter, die Mädchen entspannter. "Bei den Schülerinnen erhoffen wir uns darüber hinaus eine Stärkung des Selbstwertgefühls", sagt Bartsch. Die Suche nach solchen Konzepten ist aktueller denn je.
Erst kürzlich warb Bundesbildungsministerin Annette Schavan wieder für einen getrennten Unterricht von Jungen und Mädchen. "In einzelnen Fächern und bestimmten Altersstufen kann getrennter Unterricht durchaus sinnvoll sein", sagte Schavan. "Wir haben die Erfahrung gemacht, dass im Bereich der Naturwissenschaften oder der Sprachen es nicht immer gelingt, Jungen und Mädchen in gleicher Weise anzusprechen."
Ganz so pauschal wollen dagegen weder Wirtschaftsvertreter noch Wissenschaftler diese These stehen lassen. "Jungen und Mädchen müssen differenziert unterrichtet werden, dazu müssen sie aber nicht unbedingt getrennt werden", sagt Astrid Kaiser, Pädagogikprofessorin an der Universität Oldenburg. Ein strikt monoedukativer Unterricht verstärke die Differenz zwischen Jungen und Mädchen und führe dazu, das sich geschlechterspezifische Rollenmuster verbreiten und verfestigen.
"Kinder und Jugendliche müssen die eigenen Grenzen kennenlernen und sich mit dem anderen Geschlecht auseinandersetzen", meint auch Berit Heintz, bildungspolitische Sprecherin des Deutschen Industrie- und Handelskammertages. Es bringe nichts, Jungen und Mädchen in Schutzräumen zu unterrichten - die gebe es in der späteren Arbeitswelt auch nicht.
Die Diskussion über getrennten Unterricht ist nicht neu. Bereits in den 90er-Jahren wurde die Koedukation auf den Prüfstand gestellt. In wissenschaftlich begleiteten Modellversuchen wurden Kinder und Jugendliche stundenweise getrennt unterrichtet. In Kiel etwa durften Jungen und Mädchen jeweils für sich Physik büffeln. In Oldenburg standen an Grundschulen einmal pro Woche Jungen- und Mädchenstunden auf dem Stundenplan. Inhalte waren vor allem soziales Lernen und geschlechterspezifische Alltagsprobleme.
"Es hat sich gezeigt, dass eine Trennung sinnvoll ist, wenn es um die Identitätsfindung beider Gruppen geht", sagt Anne Jenter, Leiterin des Arbeitsbereichs Frauenpolitik im Lehrerverband GEW. Sind Jungen und Mädchen unter sich, könne über stereotypes Argumentieren und Verhalten leichter reflektiert werden. Daher sei mehr Raum, eigene individuelle Neigungen unabhängig vom tradierten Rollenverständnis zu erkennen und zu fördern. Sind diese Voraussetzungen aber geschaffen, ist eine weitere Trennung eher von Nachteil, ist Professorin Kaiser überzeugt: "Beide Geschlechter müssen im Alltag miteinander klarkommen und daher lernen, mit den Unterschieden umzugehen."
Wichtig sei jedoch, dass Lehrer auch im gemeinsamen Unterricht auf die unterschiedlichen lernpsychologischen Voraussetzungen und Arbeitsweisen von Jungen und Mädchen eingehen und entsprechende Lernangebote machen. Der Unterricht werde automatisch besser und steigere die Lernmotivation, sagt die Professorin.
Zudem erhöht ein geschlechtersensibler Unterricht die Berufschancen, sagt GEW-Expertin Jenter: "Wenn im Klassenzimmer Rollenbilder infrage gestellt werden, ist es für Mädchen leichter, den Zugang zu klassischen Männerberufen zu finden und umgekehrt." Das wiederum käme auch Politikern und Arbeitgebern entgegen. In Zeiten des Fachkräftemangels wollen sie verstärkt Mädchen - etwa über Aktionen wie den Girls Day - für technische und techniknahe Berufe begeistern.
MELANIE RÜBARTSCH