Landeszeitung Lneburg: Landeszeitung Lneburg: ,,Frderpdagogik ist des Teufels" Interview mit dem Kinderpsychologen Wolfgang Bergmann.


[Finanznachrichten, 18.06.2009]
 
Lüneburg (ots) - Die Mehrzahl der Abiturienten ist weiblich. Ist dieser Trend Vorbote für ein Matriarchat?
Bergmann: Nein, überhaupt nicht. Denn die führenden Positionen werden nach wie vor von Männern besetzt, und zwar auch von ganz jungen Männern. Das heißt, die vorbildlichen Noten der Abiturientinnen bedeuten nur, dass sie sich an die schulischen Ordnungen und Normen angepasst haben. Die wiederum passen aber nur sehr bedingt zur wirtschaftlichen Realität einer globalisierten Kultur. Das spielt zunehmend auch in den Einstellungen zumindest in den gehobeneren Positionen bei den Personalberatern eine entscheidende Rolle. Die Jungen spielen lieber Computer, als für die Schule zu lernen. Und das ist für ihren Beruf auch erheblich wichtiger.

Heißt das, dass sich in den vergangenen 50 Jahren nichts geändert hat?
Bergmann: Ein bisschen hat sich schon geändert. So in der Angleichung des sozialen Ansehens der Geschlechter. Aber Jungen sind Jungen, Mädchen sind Mädchen, ihre Unterschiedlichkeit zu leugnen, macht überhaupt keinen Sinn. Eine völlig andere Frage ist, ob unsere Kultur weiblichen Eigenschaften und Tugenden entgegenwächst. Davon kann aber, analytisch betrachtet, nicht die Rede sein. Es gibt in der ganzen Entwicklung der digitalen, der globalisierten Kultur nicht einen einzigen großen weiblichen Namen -- es sind alles Männer.

Der allgemeine Leistungsabfall bei Jungen wird von Experten häufig damit in Zusammenhang gebracht, dass die Lehrerschaft überwiegend weiblich ist. Brauchen wir eine Männerquote für Schulen?
Bergmann: Das kann man nicht herbei dirigieren. Es wäre natürlich viel besser, wenn es mehr Männer schon in den Kindergärten gäbe, erst recht in den Grundschulen. In Kitas kann man beobachten, wenn z.B. ein Zivildienstleistender hereinkommt, dass die kleinen Jungen wie eine Traube an ihm hängen. Die Weiblichkeit der Kindergärten und der Grundschulen führt dazu, dass eine Sehnsucht nach dem Väterlichen, dem Männlichen ausgelöst wird, nach jemandem der sagt: ,So ist das, jetzt wider-sprich' mir nicht.' Das können Frauen nicht oder genauer: Sie können es anders, aber vor allem den Jungen fehlt dann das Männliche, das Väterliche in der Vermittlung von Normen und Regeln. Und so stehen Erzieherinnen oder Lehrerinnen zeitweise völlig hilflos vor einem dissozialen Chaos. Dann lesen sie schlechte Literatur -- beispielsweise, dass die Kinder Tyrannen sind. Dieser Tatbestand ist aber auch ein Zeichen dafür, dass uns Kinder nichts wert sind. In Finnland oder Schweden haben wir das Problem nicht. Denn dort sind Berufe, in denen man sich mit kleinen Kinder befasst, hoch angesehen.

Auch in skandinavischen Ländern, den PISA-Siegern, ist die Lehrerschaft überwiegend weiblich. Woran kann es liegen, dass Jungen dort nicht aus dem Rahmen fallen?
Bergmann: In Finnland schon, auch in Dänemark gibt es mehr männliche Lehrer. Es kommt auch nicht so sehr auf das Biotische an. Wenn eine Frau vor 20 Neunjährigen anfängt, sich durchzusetzen, dann wird ihre Stimme immer höher und kreischender, und die Kleinen denken schließlich, die hat mir gar nichts zu sagen. Wenn aber ein Mann vor der Klasse steht und mit kräftiger Stimme Ruhe fordert -- vor allem die hyperaktiven Jungen sind da sehr beeindruckbar -- sind alle still.

Aggressives Verhalten, skrupellose Prügeleien und Koma-Saufen machen immer häufiger Schlagzeilen, prägen den Zeitgeist der Jugend. Woran liegt das?
Bergmann: Ganz so dras"tisch ist es nicht. Das Problem Aggressivität ist, dass es eine ungekonnte Aggressivität ist. Wir haben uns früher auch gewaltig geprügelt. Wir lernten dabei aber, weil wir nicht ständig beaufsichtigt wurden, automatisch Körperlichkeit und Rücksichtnahme. Die modernen Kinder haben das nicht mehr, stehen ständig unter Kontrolle und Anspannung. Damit kommen die seelisch verletzbaren kleinen Jungen noch weniger zurecht als die Mädchen. Beim Koma-Saufen zeigt sich die Unfähigkeit unserer Gesellschaft, soziale kommunikative Eigenschaften zu entwickeln. Wir sind eine Ego-Gesellschaft. Das prägt sich in unseren Kindern aus. Früher wurde auch getrunken. Aber wir tranken kommunikativ, im Laufe der Gespräche auf einer Party. Koma-Saufen ist etwas anderes: Man nimmt die Flasche Hochprozentiges und schüttet sich zu, weil man sich vorher kaum in der Lage sieht, Spaß zu haben und mit anderen zusammen zu sein. Es gibt einen tiefen Kommunikationsverlust. Und solange wir auf den Prophylaxe-Tagungen nur darüber nachdenken, wie man das kontrollieren kann, können wir die ganzen Treffen vergessen und das Geld lieber in Heime für Obdachlose stecken.

Kinder aus sozial schwachen Familien sind häufig auf sich allein gestellt. Wie sollen die es lernen?
Bergmann: Das sind circa 15 Prozent -- auf diese Klientel zielen im Wesentlichen die Boulevardmedien ab. 75 Prozent aller Kinder wachsen in Familien mit Vater auf Mutter auf, was vielen Pädagogen unbekannt ist. Wohl haben sich die Familien geändert, von der Groß- zur Kleinfamilie, doch das ist ein anderes Thema. Aber Kontrolle ist heutzutage sehr viel unmittelbarer, dichter und undurchdringlicher und zwar von Kindheit an. Schon die Zweieinhalbjährigen werden in Förderkurse gespannt. Wenn die in einem dieser Exklusiv- oder Exzellenz-Pädagogik-Kindergärten wie ,,Kids auf der Überholspur" oder ,,Little Giants" eine Blume sehen, sich freuen und sich mit dem Charakter dieser Blume verbinden wollen, kommt die Erzieherin und sagt: ,,This is a flower". Und in dem Moment ist das Intuitive, das Körperliche, das spontane Empfinden für den Gegenstand verloren gegangen. Diese ganze Förderpädagogik ist des Teufels, das sagt uns auch die Gehirnphysiologie. Die Kinder sind permanent unter dem Druck: Ich muss ein tolles und erfolgreiches Kind sein. Sie lernen zu rivalisieren, bevor sie soziale Eigenschaften und das freie frohe Spiel miteinander gelernt haben. Das geht in der Grundschule weiter.

Wir leben in einer medialen Welt. Ist das ein Fluch oder ein Segen für die Entwicklung von Kindern?
Bergmann: Zunächst einmal ist das eine kulturelle Entwicklung. Dagegen kann man gar nichts machen. Da können sich Leute wie jetzt die Innenminister moralisch empören bis sie schwarz sind, das interessiert absolut niemanden. Mit dieser moralisierenden Haltung kommen wir nicht weiter. Die Kinder wachsen in eine digitalisierte Informations- und Bildkultur hinein. Vor allem die Jungen, die sich mit dieser Technokratie und diesen hoch eindrucksvollen ästhetischen Bildern unendlich gut auskennen, gerade die Hyperaktiven, die Schwierigen. Die brauchen Sie nur vor einen Computer zu setzen, plötzlich können die alles, was sie sonst nicht können: still sitzen, sich konzentrieren, planmäßig vorgehen. Das einzige, was sie nicht können, ist aufhören. Die Diskussion verrennt sich in meist sinnlose quantitativ statistische Erhebungen wer spielt wie lange -- oder in eine pädagogische moralisierende Gebärde. Mit beiden kommen wir nicht weiter.

Was kann Schule da leisten?
Bergmann: Schule kann da wenig leisten. Wer hört denn einer Lehrerin zu, wenn sie etwas über ein Computerspiel erzählt? Oder wenn Herr Pfeiffer (Prof. für Kriminologie u. Jugendstrafrecht, Red.) wieder mal für ein Verbot plädiert. Der Mann hat noch nie in seinem Leben begeistert gespielt. Der weiß gar nicht, wo die Faszination steckt in ,,World of Warcraft", wenn sich der Spieler verliert in kaltem Lichtgelände, das muss man spüren. Wenn wir die Sache ernst nehmen, dann müssen wir uns verbünden mit den narziss"tischen Energien, mit den Faszinationen der Kinder. Computerspielen ist einsam. Daher muss man versuchen, ein Stück der sozialen Kultur der Kommunikation, der Bindungsfähigkeit, die auch den modernen Kindern eigen ist, herzustellen, um sie dort wieder hineinzulo"cken. Nie gab es eine Kinder- und Jugendgeneration, die so sehr auf Erwachsene hört, wenn sie diese Erwachsenen respektiert. Aber sehr viele Erwachsene, vor allem Lehrer, Päda"gogen, Therapeuten entziehen sich selber sozusagen der Aufmerksamkeit der Kinder. Ein starker Mensch ist nie einer, der moralisierend ist.

Chatten, Simsen, Dauertelefonieren erwecken den Eindruck, dass die Jugend in einer Welt voller Freunde lebt. Dennoch ist Studien zufolge die Sehnsucht nach Geborgenheit groß. Wie passt das zusammen?
Bergmann: Der Widerspruch, den ich eben skizziert habe, ist auch in den Jugendlichen selber drin. Sie stehen permanent in Verbindung mit einem anderen, aber nur so lange, wie er gerade interessiert. Ein Klick, und dann ist er weg. Der mir gegenüber sitzt, verliert an Bedeutung, denn bei dem kann ich nicht Klick machen. Gleichzeitig aber sind diese modernen Kinder auch Kinder mit Sehnsüchten nach Mama, Liebe, Geborgenheit. Und je kälter diese Gesellschaft wird, desto größer wird die Bedürftigkeit der 14- bis 17-Jährigen nach Geborgenheit. Und diese müssen Erwachsene stiften. Das ist die große Kunst.

Wären Ganztagsschulen eine Lösung?
Bergmann: Diese wären dann eine Lösung, wenn wir einen anderen Typus von Lehrern hätten. Solche, die nicht moralisieren, sondern die cool sind, großzügig, gelassen. Solche, die auch mal weggucken, wenn Jungen sich in ihre hie"rar"chischen Kämpfe verstri"cken. Ganztagsschulen sind eine Hilfslösung, die interessanter wäre, wenn wir Leute an die Schulen holten wie Künstler, Bildhauer, aber auch Tischler und andere Handwerker. Am besten solche, die nichts von Pädagogik verstehen, die aber mit großem Enthusiasmus und beruflichen Erfahrungen auf die Jugendlichen zugehen. Dann sind die Schüler plötzlich ganz geordnet, begeistert. Dafür gibt es ganz viele Beispiele.

Das geht in Richtung Waldorf-Pädagogik?
Bergmann: Die Waldorf-Pädagogik ist ein Schritt in die richtige Richtung, auch die Montessori-Pädagogik und die Reformpädagogik insgesamt -- inzwischen 100 Jahre alt -- ist gegenüber den Regelschulen ganz eindeutig sehr viel moderner und fortschrittlicher. Es gibt bedeutende Leute wie Enja Riegel, die eine Modellschule nach der anderen eröffnet hat, die in den PISA-Tests auch optimal abschneiden. Die Frage ist, wa"rum die Kultusbürokratie das nicht nachmacht. Und: Warum lassen sich Lehrer das gefallen, warum machen sie das mit?

Also müssten die Studiengänge überarbeitet werden?
Bergmann: Die Ausbildung muss sich ändern, das Untertan-Verhalten vieler Lehrer muss aufhören, das Hochnormativ-moralische muss sich ändern, das ewig gekränkte Beleidigtsein muss aufhören. Und dann brauchen die Kinder, vor allem die Jungen, starke Erwachsene. Die Politik macht sich stark für mehr Krippen- und Kita-Plätze, damit mehr Mütter arbeiten gehen können. Ist das der richtige Weg? Bergmann: Das ist mit Sicherheit ein absolut irrwitziger Weg. Davor warnt sogar die konservative Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Und an die Adresse der Bundesfamilienministerin gerichtet, mache ich darauf aufmerksam, dass die Zahl der hyperaktiven Kinder in den nächsten sieben Jahren dramatisch steigen wird. Die Krippen-Diskussion ist rein technokratisch und propagandistisch gelaufen. Frau von der Leyen sagt nicht einen einzigen Satz zur Bedürftigkeit von Kindern. Es geht nur um die Bedürftigkeit der Wirtschaft. Das heißt, die Kälte, die insgesamt unsere Kinder verstört, wird in dieser Diskussion noch einmal deutlich sichtbar. Da trägt die Familienministerin auch als Person eine moralische Verantwortung.

Das Interview führte Dietlinde Terjung

Originaltext: Landeszeitung Lüneburg Digitale Pressemappe: http://www.presseportal.de/pm/65442 Pressemappe via RSS : http://www.presseportal.de/rss/pm_65442.rss2

Pressekontakt: Landeszeitung Lüneburg Werner Kolbe Telefon: +49 (04131) 740-282 werner.kolbe@landeszeitung.de

Kleine Racker brauchen starken Mann


[Schweriner Volkszeitung, 03. Juni 2009]

Es gibt Berufe, die als klassische Frauendomänen gelten. Doch immer häufiger erobern sich Männer Krankenhäuser, Kitas oder die Fleischtheke im Supermarkt. So wie Nico Hirsch. Der 37-Jährige hatte gestern seinen ersten Arbeitstag als Erzieher.

KUHSTORF - "Ich finde es gut, wenn sich die Trennung zwischen Frauen- und Männerberufen immer mehr auflöst. Warum soll ein Mann nicht mit Kindern umgehen können, genauso wie eine Frau ja auch ein großes Flugzeug steuern kann. Also, so tolerant sollte man in der heutigen Zeit schon sein. Und außerdem sollte jeder in seinem Beruf glücklich sein und sich wohlfühlen", sagt Petra Linow. Die 50-Jährige leitet seit fast 20 Jahren die Kindereinrichtung im Dorf und hat in dieser Zeit schon viel erlebt. Doch der gestrige Tag war auch für die gebürtige Hagenowerin eine Premiere. Denn ein Mann begann seine Anstellung als Kindergärtner.

"Ich diene mich hier in den nächsten Wochen hoch", schmunzelt Nico Hirsch und meint damit die Tatsache, dass er die Abläufe im "Regenbogenland" detailiert kennenlernen muss. Deshalb beginnt der 37-Jährige auch mit der kleinsten Gruppe und wird perspektivisch gesehen, später für die Vorschulkinder verantwortlich sein. Als ehemaliger Zeitsoldat und Fahrlehrer bringe er die nötige Ruhe und ein gestähltes Nervenkostüm mit, gesteht der gebürtige Kuhstorfer, der von 1975 bis 1978 selbst diese kindliche Stätte besuchte. "Meine Frau ist ebenfalls schon in diesem Kindergarten betreut worden", erinnert sich Hirsch, als starker Mann für die kleinen Racker.

Statistischen Angaben zufolge sind in Kindergärten und Kindertagesstätten nur drei Prozent der Fachkräfte männlich, in der Grundschule nur rund 13 Prozent. "Jungs haben daher außerhalb der Familie kaum männliche Identifikationsfiguren", erklärt der Kuhstorfer seine berufliche Entscheidung. Dafür hat er auch eine dreijährige Fachausbildung zum staatlich anerkannten Erzieher in Hamburg in Kauf genommen. Dafür spricht die Begeisterung, mit der sich Jungen und Mädchen auf jeden Mann stürzen, der in eine Kindertagesstätte kommt - und sei es der unbeholfenste Praktikant oder der unfreundlichste Handwerker. Oder denken Sie, liebe Leser, einmal an die Kinder alleinerziehender Mütter, in deren Leben es in der Regel überhaupt keine Männer gibt. Für eine Beschäftigung von Männern in Kindertagesstätten gibt es also eine ganze Reihe guter Gründe. Männer bringen frischen Wind ins Team und haben Interessen und Sichtweisen, die in Kitas oft zu wenig berücksichtigt werden. Manche jungen- und männertypische Interessen und Bedürfnisse kommen im normalen Kita-Alltag zu kurz, weil viele Frauen nur wenig darauf eingehen. Raufen und Toben, sich für Handwerkliches und Technik begeistern, Klettern und körperliche Grenzen austesten: Das alles können Frauen zwar prinzipiell auch, aber oft haben sie dazu einfach keine Lust oder Zeit.

Manche schwierigen Verhaltensweisen von Jungen hängen damit zusammen, dass sie beweisen wollen, wie "männlich" sie sind - wobei sie viel zu wenig darüber wissen, wie Männer wirklich sind, nämlich durchaus nicht immer stark, überlegen, erfolgreich und ohne Angst. Um das herauszufinden, bräuchten sie mehr Männer in ihrem Alltag, mit denen sie die ganze Bandbreite menschlicher Gefühle und Verhaltensweisen erleben könnten. Kinder orientieren sich allerdings nicht nur an Vorbildern des eigenen Geschlechts.

Jungen grenzen sich zwar auf ihrer Suche nach Männlichkeit manchmal sehr von Frauen und allem "Weiblichen" ab, aber sie übernehmen auch Sichtweisen ihrer Mütter und anderer Frauen und möchten von ihnen geliebt und bewundert werden Umgekehrt brauchen auch Mädchen Männer. Sie werden selbstbewusster, wenn sie von ihren Vätern und anderen Männern ernstgenommen und unterstützt werden. Schließlich: einen partnerschaftlicher Umgang, in dem Frauen und Männer einander mit Wertschätzung und Respekt begegnen, können Jungen und Mädchen nur dann erleben, wenn es in ihrem Alltag auch Männer und Frauen gibt.

"Es ist zwar noch total komisch für uns, dass jetzt ein Mann bei uns mit am Tisch sitzt, aber wir sind völlig vorurteilsfrei", betont Petra Linow, die insgesamt sechs Erzieher und eine technische Kraft in der 1956 erbauten Einrichtung anleitet.

Die Jungenfalle

[Der Tagesspiegel, 3-6-2009]

Männliche Jugendliche werden in der Schule abgehängt, heißt es. Doch Wissenschaftler warnen vor falschen Schlüssen - stereotype Rollenbilder können Leistungen negativ beeinflussen.

Jungen sind das neue schwache Geschlecht, lautet eine verbreitete These. Schon seit einigen Jahren bemühen sich viele Pädagogen und Journalisten, die Aufmerksamkeit weg von den lange als benachteiligt geltenden Mädchen hin zu den Jungen zu lenken. „Die Krise der kleinen Männer“, titelte die „Zeit“, „Böse Buben, kranke Knaben“ textete der „Spiegel“ und „Naht die Männerdämmerung?“, fragte die „Stuttgarter Zeitung“. Immer neue Bücher erscheinen mit Titeln wie „Kleine Jungs – Große Not“, „Jungen in der Krise“ oder „Die Jungenkatastrophe“.

Der Befund: Die Jungen sind von den Mädchen beim Abitur überholt worden, während sie unter den Hauptschülern und Schulabbrechern (58 Prozent) und Sitzenbleibern (2,7 Prozent des Jahrgangs 2007 gegenüber 2,2 Prozent bei den Mädchen) die Mehrheit stellen.

Die Ursache sehen die Autoren darin, dass die Schule sich jahrzehntelang auf die Mädchenförderung fokussiert habe. Auch würden die überwiegend weiblichen Lehrkräfte die Jungen – sei es unbeabsichtigt – zu einem Verhalten zwingen, das sich am weiblichen Geschlecht orientiere. So werde die männliche Bewegungslust von Lehrerinnen als Störung angesehen, ebenso wie „spielerisches Kräftemessen“, „mit dem Jungen eine spätere männliche Qualität im Berufsleben einüben, Fairplay statt Zickenterror“, wie der Buchautor Thomas Gersterkamp schreibt. An den Maßstäben für Mädchen gemessen und um männliche Rollenvorbilder gebracht, versagten viele Jungen schließlich.

„Droht eine Verweiblichung der Schule?“, fragte folgerichtig die „Rheinische Post“, und der „Tagesanzeiger“ aus Zürich erklärte unter der Überschrift „Kampf für eine männlichere Schule“: „Das Phänomen der weiblichen Schule hat ein ungesundes Ausmaß erreicht.“ Als unlängst der vom Verein der Bayerischen Wirtschaft (VBW) initiierte „Aktionsrat Bildung“ sein Jahresgutachten zu „Geschlechterdifferenzen im Bildungssystem“ präsentierte, stellte VBW-Präsident Randolf Rodenstock fest: „Die Bildungsungleichheit zwischen Mädchen und Jungen überschreitet die Grenzen des rechtlich und moralisch Hinnehmbaren.“

Ein ganzes Geschlecht kommt in der Schule zu kurz – das wäre ein Skandal. Doch sind die Jungen wirklich die Verlierer im Bildungssystem? Nein, sagt Detlef Pech, Professor für Grundschulpädagogik an der Humboldt-Universität: „Der aktuelle Jungen-Diskurs verkürzt die Realität tragisch.“ In der Tat würden mehr Jungen scheitern als Mädchen. Bedroht seien aber keineswegs alle Jungen, sondern solche aus schwachen sozialen Milieus, darunter viele mit Migrationshintergrund. Auch Mädchen aus sozial schwachen Familien versagen dramatisch häufig: „Darum darf man die benachteiligten Schüler nicht gegeneinander ausspielen.“

Der Männerforscher Jürgen Budde von der Universität Halle-Wittenberg, der im Auftrag des Bundesbildungsministeriums die Studie „Bildungs(miss)erfolge von Jungen“ erstellt hat, sieht das genauso. Offenbar habe es aber einen höheren Sensationswert, „die Jungen“ in Gefahr zu sehen, anstatt sich den abgehängten Migrantenjugendlichen beider Geschlechter zuzuwenden. Budde, der selbst mit Jungengruppen arbeitet, sieht in der Debatte aber auch „antifeministische Züge“. Es gehe um Verteilungskämpfe, etwa um Geld für die Jungenförderung.

Budde kritisiert auch, dass die Diskussion Jungen einseitig negative Merkmale zuschreibt. Dabei seien die meisten Jungen durchschnittlich, manche sogar sehr erfolgreich in der Schule: So sind Jungen bei Pisa in Mathematik und den Naturwissenschaften häufiger in der Spitzengruppe vertreten als Mädchen. Der Abstand zwischen einem deutschen Professorensohn und dem Sohn eines arabischen Hilfsarbeiters ist weit größer als zwischen Mädchen und Jungen insgesamt.

So haben im Jahr 2007 von den männlichen Schulabgängern ohne deutschen Pass zwei Drittel keinen Abschluss oder nur den Hauptschulabschluss gemacht. Auch ein Mädchen ohne deutschen Pass hat aber ein erheblich höheres Risiko auf nur den Hauptschulabschluss oder gar keinen Abschluss als ein deutscher Junge (53 Prozent gegenüber 32 Prozent). Wenn also das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln (IW) mitteilt: „Nicht alle Jungen sind Verlierer, aber: Die Verlierer im deutschen Bildungssystem sind männlich“, ist das schlicht falsch.

Bildungserfolge hängen sehr stark von der sozialen Herkunft ab. Als weiterer Faktor kommt das Geschlecht hinzu. Insofern muss durchaus gefragt werden, wie Jungen und Mädchen optimal zu fördern sind. Denn beide Geschlechter werden gemäß der gesellschaftlichen Normen und Stereotype geprägt, die zu Erfolgen oder Misserfolgen in Bildung und Beruf beitragen.

So wollen zumal Jungen aus bildungsferneren Schichten traditionelle Männerberufe im Handwerk und der Industrie ergreifen – angesichts des Wandels zur wissensbasierten Dienstleistungsgesellschaft eine riskante Strategie, wie Budde schreibt. Arbeitslosigkeit trifft Männer aber besonders hart, weil Erwerbstätigkeit für ihre Geschlechtsidentität bedeutender ist als für Frauen: „Der Weg: Dann werde ich Hausfrau und Mutter ist ihnen versperrt“, sagt Budde.

Auch in der Schule können sich Männlichkeitsnormen nachteilig auswirken. Wer unter seinen Mitschülern nicht als Streber, sondern als „echter Junge“ anerkannt sein will, hat den Beweis dafür zu erbringen, indem er Lesen „uncool“ findet und im Unterricht stört. Von einem solchen „negativen Männlichkeitsdruck“ getrieben fühlen sich zumal solche Schüler, deren soziale Herkunft ihnen sonst kaum Chancen für andere „Statusgewinne“ eröffnet.

Andererseits werde „typisches Jungenverhalten“ wie „Konkurrenzorientierung und Quatschmachen“ von Pädagogen aber auch für die Vorteile von Jungen verantwortlich gemacht, für ihr Selbstbewusstsein und ihre Dominanz im Unterricht. Angesichts solcher Widersprüche stellt Budde fest: „So klar, wie es ist, dass auch Jungen besonderer Unterstützung in der Schule bedürfen, so unklar ist jedoch, in welche Richtung diese gehen soll.“

Würde eine Männerquote helfen, wie der Pädagoge Klaus Hurrelmann sie gefordert hat? Überwältigend hoch ist der Anteil von Lehrerinnen nur in der Grundschule (88 Prozent). Wenn es um die Leistungen in Mathematik und Naturwissenschaften geht, gibt es am Ende der Grundschulzeit aber „mitnichten ein gender gap“, schreiben die Forscher der großen Schuluntersuchung Timss: Jungen leisten so viel wie Mädchen. Und aus der Iglu-Studie geht hervor, dass Jungen, die von Männern im Lesen unterrichtet wurden, nicht besser abschneiden als solche, die eine Lehrerin hatten (siehe auch nebenstehenden Artikel). Der Abstand zwischen Jungen und Mädchen vergrößert sich erst in der Oberschule – obwohl dort weit mehr Männer arbeiten (42 Prozent in der Hauptschule, fast 50 Prozent am Gymnasium).

Auch geschlechtergetrennter Unterricht ist keine Lösung. Er ist aufwendig, seine Wirkung aber umstritten. So besteht eine weitere Forderung darin, den Jungen mit „jungengerechten“ Unterrichtsmaterialien zu helfen. An verunsicherte Lehrkräfte wendet sich der neue Ratgeber „Jungen besser fördern“ (Cornelsen Verlag): „Jungen möchten gern den Umgang mit Hammer und Nägeln lernen, Jungen haben Spaß, ihre Kräfte zu messen, Jungen schreien sich auch einmal an, ohne beleidigt zu sein, Jungen lernen in einem eigenen Tempo“, schreibt Herausgeberin Gabriele Cwik, Schulrätin in Essen. Daraus folgt für sie: „Im Unterricht wird öfter eine Möglichkeit für einen Wettkampf eingebaut, gemeinsam werden Formen der körperlichen Auseinandersetzung erprobt, die keinen Schaden anrichten.“ Die Jungen sollen „Knobelaufgaben mit Fußballbundesligatabellen“ lösen. Um „Jungen mit dem Lesen zu versöhnen“, sollen Lehrerinnen ihnen lieber „Räuberpistolen“ als „Problemliteratur“ anbieten.

Von solchen Tipps hält Jürgen Budde wenig. Stereotype könnten sogar verstärkt werden, wenn im Unterricht auf Konkurrenz gesetzt wird. Im Gegenteil müssten die Lehrer den Jungen neue Wege zu ihrer Geschlechtsidentität aufzeigen. Auch sei die Annahme, die in der Schule ausgewählte Lektüre komme den Mädchen entgegen, nicht gesichert. Sie beinhalte wiederum die Gefahr „stereotype Leseinteressen vorauszusetzen“. „Alle Jungen mögen Fußball – das stimmt nun einmal nicht“, sagt auch Detlef Pech. Die Lehrer sollten die gesellschaftliche Prägung der Geschlechter nicht ignorieren, und natürlich gebe es schon in der ersten Klasse „Macker“, deren Interessen sie ansprechen müssten. „Aber wenn Lehrer Stereotype bedienen, schreiben sie sie fest, und das ist desaströs.“

So können negative Vorurteile Jungen gegenüber dazu führen, dass Lehrkräfte ihnen schlechtere Noten geben, wie aus Buddes Studie hervorgeht. Auch Eltern schätzen Jungen schlechter und vor allem unmotivierter ein als Mädchen. Schließlich zeigen die Jungen dann tatsächlich weniger Leistung.

Rollenstereotype wirken sich auch nachteilig auf Mädchen aus. So erklärten in einer von Budde zitierten Studie ein Viertel der befragten Mathematiklehrkräfte und ein Drittel der Physiklehrer, sie hielten Jungen für begabter als Mädchen. Mädchen werden denn auch häufiger aufgerufen, um den Stoff zu wiederholen und zusammenzufassen. Jungen werden hingegen eher nach neuen Sachverhalten und Ideen gefragt. Sie gelten demnach als „genial“, Mädchen als „fleißig“. Schon in der Grundschule wirkt sich das hemmend auf den Lernerfolg der Mädchen aus.

Budde und Pech fordern deshalb Lehrer, die in der Lage sind, „geschlechtersensibel“ zu unterrichten. Sie sollen die Geschlechterrollen und die gesellschaftlichen Erwartungen an sie reflektieren. Die Anforderungen an einen „geschlechtersensiblen Unterricht“ sind hoch, werden aber in der Lehrerausbildung kaum vermittelt, sagt Pech. Hilflos sind auch manche Bemühungen der Schulbuchverlage. So beobachtet Pech seit einiger Zeit in Schulbüchern Illustrationen mit Kindern, die keinem Geschlecht zuzuordnen sind. Damit wollen die Autoren die Gefahr von klischeehaften Zuschreibungen umschiffen. Doch: „Das ist fatal“, sagt Pech, denn die Kinder suchten nach „Anschlussmöglichkeiten“, um ihre Geschlechtsidentität zu entwickeln.

So könnten Lehrer durchaus an Bundesligatabellen rechnen üben lassen – aber ohne etwa zu erklären, dies sei eine Aufgabe für Jungen. Denn dann könnte sich ein Junge, der kein Interesse an Fußball hat, infrage gestellt sehen, ebenso wie ein fußballinteressiertes Mädchen. „Die Schüler entwickeln eine geschlechtliche Identität, aber die behauptete Eindeutigkeit ist nicht da“, sagt Pech. Mehr körperliche Bewegung in den Unterricht zu integrieren wird unter dieser Voraussetzung als Maßnahme verstanden, von der nicht nur Jungen, sondern auch Mädchen profitieren können.

Entsprechend könnten die Schulbücher sowohl Fotos vom Fußball als auch von Pferden mit Mädchen und Jungen abbilden. „Die Lehrer sollen beiden Geschlechtern die Vielfalt der Möglichkeiten zeigen“, sagt Pech. Je breiter das Angebot, desto höher die Chance, dass jedes Kind mit seiner Vorstellungswelt Möglichkeiten zum „Andocken“ findet. Nehmen Lehrer den kraftmeiernden türkischen Schüler nur als Pascha wahr, verkennen sie dessen Fürsorglichkeit als großer Bruder vieler kleiner Geschwister. Dessen Männlichkeitsnorm kann es durchaus zulassen, Windeln zu wechseln, berichtet Budde aus der Praxis – ein viel versprechender Anknüpfungspunkt für die Klasse.

Männlichkeit ist „eine soziale Tatsache“, sagt Budde. Doch so, wie sich in den vergangenen 30 Jahren die Rollen der Frau aufgefächert hätten, könne sich auch das Männerbild wandeln – und dennoch die Bildung „einer stabilen Identität“ erlauben.

Thema des Monats: Jungs - benachteiligt?


[Family Fair, Montag, 1. Juni 200]

LINK

Experten sehen Jungen massiv benachteiligt

Nach dem Amoklauf von Winnenden kritisieren Experten den Umgang mit Jungen in deutschen Schulen. Es sei nicht verwunderlich, dass die meisten Amokläufer Jungen seien, sagt Dieter Lenzen, Präsident der FU Berlin. Bei der Vernachlässigung der männlichen Schüler sieht er große Unterschiede zwischen den Bundesländern.

Der Präsident der Freien Universität Berlin, Dieter Lenzen, hat eine massive Benachteiligung von Jungen im deutschen Bildungssystem als eine der möglichen Ursachen des Amoklaufs von Winnenden bezeichnet.

„An den Auswüchsen sieht man, was an Problemen im System entstehen können“, sagte der Vorsitzende des Aktionsrats Bildung in München.

Jungen seien die Verlierer im deutschen Bildungssystem. Es sei bemerkenswert, dass die meisten Opfer von Tim K. Mädchen und Lehrerinnen seien und dass die meisten Amokläufer Jungen seien.

„Das Bildungssystem schafft es nicht, Jungen in den Zustand psychischer Ausgeglichenheit zu versetzen, der solche Taten ausschließt“, kritisierte der Professor bei der Vorstellung einer Studie „Geschlechterdifferenz im Bildungssystem“. Vom Kindergarten bis zur Hochschule verstärke das deutsche Bildungssystem die Geschlechterunterschiede.

„Beim Übergang auf das Gymnasium müssen Jungen eine deutlich höhere Leistung erbringen. Der Weg in die Berufsausbildung ist für Jungen erschwert“, kritisierte Lenzen.

„Von allen Schulabgängern ohne Abschluss sind 62 Prozent Jungen.“ Auch bei den Abiturienten seien die Mädchen klar in der Mehrheit.

Hier können Sie den vollständigen Artikel lesen (12. März 2009):

http://www.welt.de/politik/article3363431/Experten-sehen-Jungen-massiv-benachteiligt.html