Männliche Jugendliche werden in der Schule abgehängt, heißt es. Doch Wissenschaftler warnen vor falschen Schlüssen - stereotype Rollenbilder können Leistungen negativ beeinflussen.
Jungen sind das neue schwache Geschlecht, lautet eine verbreitete These. Schon seit einigen Jahren bemühen sich viele Pädagogen und Journalisten, die Aufmerksamkeit weg von den lange als benachteiligt geltenden Mädchen hin zu den Jungen zu lenken. „Die Krise der kleinen Männer“, titelte die „Zeit“, „Böse Buben, kranke Knaben“ textete der „Spiegel“ und „Naht die Männerdämmerung?“, fragte die „Stuttgarter Zeitung“. Immer neue Bücher erscheinen mit Titeln wie „Kleine Jungs – Große Not“, „Jungen in der Krise“ oder „Die Jungenkatastrophe“.
Der Befund: Die Jungen sind von den Mädchen beim Abitur überholt worden, während sie unter den Hauptschülern und Schulabbrechern (58 Prozent) und Sitzenbleibern (2,7 Prozent des Jahrgangs 2007 gegenüber 2,2 Prozent bei den Mädchen) die Mehrheit stellen.
Die Ursache sehen die Autoren darin, dass die Schule sich jahrzehntelang auf die Mädchenförderung fokussiert habe. Auch würden die überwiegend weiblichen Lehrkräfte die Jungen – sei es unbeabsichtigt – zu einem Verhalten zwingen, das sich am weiblichen Geschlecht orientiere. So werde die männliche Bewegungslust von Lehrerinnen als Störung angesehen, ebenso wie „spielerisches Kräftemessen“, „mit dem Jungen eine spätere männliche Qualität im Berufsleben einüben, Fairplay statt Zickenterror“, wie der Buchautor Thomas Gersterkamp schreibt. An den Maßstäben für Mädchen gemessen und um männliche Rollenvorbilder gebracht, versagten viele Jungen schließlich.
„Droht eine Verweiblichung der Schule?“, fragte folgerichtig die „Rheinische Post“, und der „Tagesanzeiger“ aus Zürich erklärte unter der Überschrift „Kampf für eine männlichere Schule“: „Das Phänomen der weiblichen Schule hat ein ungesundes Ausmaß erreicht.“ Als unlängst der vom Verein der Bayerischen Wirtschaft (VBW) initiierte „Aktionsrat Bildung“ sein Jahresgutachten zu „Geschlechterdifferenzen im Bildungssystem“ präsentierte, stellte VBW-Präsident Randolf Rodenstock fest: „Die Bildungsungleichheit zwischen Mädchen und Jungen überschreitet die Grenzen des rechtlich und moralisch Hinnehmbaren.“
Ein ganzes Geschlecht kommt in der Schule zu kurz – das wäre ein Skandal. Doch sind die Jungen wirklich die Verlierer im Bildungssystem? Nein, sagt Detlef Pech, Professor für Grundschulpädagogik an der Humboldt-Universität: „Der aktuelle Jungen-Diskurs verkürzt die Realität tragisch.“ In der Tat würden mehr Jungen scheitern als Mädchen. Bedroht seien aber keineswegs alle Jungen, sondern solche aus schwachen sozialen Milieus, darunter viele mit Migrationshintergrund. Auch Mädchen aus sozial schwachen Familien versagen dramatisch häufig: „Darum darf man die benachteiligten Schüler nicht gegeneinander ausspielen.“
Der Männerforscher Jürgen Budde von der Universität Halle-Wittenberg, der im Auftrag des Bundesbildungsministeriums die Studie „Bildungs(miss)erfolge von Jungen“ erstellt hat, sieht das genauso. Offenbar habe es aber einen höheren Sensationswert, „die Jungen“ in Gefahr zu sehen, anstatt sich den abgehängten Migrantenjugendlichen beider Geschlechter zuzuwenden. Budde, der selbst mit Jungengruppen arbeitet, sieht in der Debatte aber auch „antifeministische Züge“. Es gehe um Verteilungskämpfe, etwa um Geld für die Jungenförderung.
Budde kritisiert auch, dass die Diskussion Jungen einseitig negative Merkmale zuschreibt. Dabei seien die meisten Jungen durchschnittlich, manche sogar sehr erfolgreich in der Schule: So sind Jungen bei Pisa in Mathematik und den Naturwissenschaften häufiger in der Spitzengruppe vertreten als Mädchen. Der Abstand zwischen einem deutschen Professorensohn und dem Sohn eines arabischen Hilfsarbeiters ist weit größer als zwischen Mädchen und Jungen insgesamt.
So haben im Jahr 2007 von den männlichen Schulabgängern ohne deutschen Pass zwei Drittel keinen Abschluss oder nur den Hauptschulabschluss gemacht. Auch ein Mädchen ohne deutschen Pass hat aber ein erheblich höheres Risiko auf nur den Hauptschulabschluss oder gar keinen Abschluss als ein deutscher Junge (53 Prozent gegenüber 32 Prozent). Wenn also das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln (IW) mitteilt: „Nicht alle Jungen sind Verlierer, aber: Die Verlierer im deutschen Bildungssystem sind männlich“, ist das schlicht falsch.
Bildungserfolge hängen sehr stark von der sozialen Herkunft ab. Als weiterer Faktor kommt das Geschlecht hinzu. Insofern muss durchaus gefragt werden, wie Jungen und Mädchen optimal zu fördern sind. Denn beide Geschlechter werden gemäß der gesellschaftlichen Normen und Stereotype geprägt, die zu Erfolgen oder Misserfolgen in Bildung und Beruf beitragen.
So wollen zumal Jungen aus bildungsferneren Schichten traditionelle Männerberufe im Handwerk und der Industrie ergreifen – angesichts des Wandels zur wissensbasierten Dienstleistungsgesellschaft eine riskante Strategie, wie Budde schreibt. Arbeitslosigkeit trifft Männer aber besonders hart, weil Erwerbstätigkeit für ihre Geschlechtsidentität bedeutender ist als für Frauen: „Der Weg: Dann werde ich Hausfrau und Mutter ist ihnen versperrt“, sagt Budde.
Auch in der Schule können sich Männlichkeitsnormen nachteilig auswirken. Wer unter seinen Mitschülern nicht als Streber, sondern als „echter Junge“ anerkannt sein will, hat den Beweis dafür zu erbringen, indem er Lesen „uncool“ findet und im Unterricht stört. Von einem solchen „negativen Männlichkeitsdruck“ getrieben fühlen sich zumal solche Schüler, deren soziale Herkunft ihnen sonst kaum Chancen für andere „Statusgewinne“ eröffnet.
Andererseits werde „typisches Jungenverhalten“ wie „Konkurrenzorientierung und Quatschmachen“ von Pädagogen aber auch für die Vorteile von Jungen verantwortlich gemacht, für ihr Selbstbewusstsein und ihre Dominanz im Unterricht. Angesichts solcher Widersprüche stellt Budde fest: „So klar, wie es ist, dass auch Jungen besonderer Unterstützung in der Schule bedürfen, so unklar ist jedoch, in welche Richtung diese gehen soll.“
Würde eine Männerquote helfen, wie der Pädagoge Klaus Hurrelmann sie gefordert hat? Überwältigend hoch ist der Anteil von Lehrerinnen nur in der Grundschule (88 Prozent). Wenn es um die Leistungen in Mathematik und Naturwissenschaften geht, gibt es am Ende der Grundschulzeit aber „mitnichten ein gender gap“, schreiben die Forscher der großen Schuluntersuchung Timss: Jungen leisten so viel wie Mädchen. Und aus der Iglu-Studie geht hervor, dass Jungen, die von Männern im Lesen unterrichtet wurden, nicht besser abschneiden als solche, die eine Lehrerin hatten (siehe auch nebenstehenden Artikel). Der Abstand zwischen Jungen und Mädchen vergrößert sich erst in der Oberschule – obwohl dort weit mehr Männer arbeiten (42 Prozent in der Hauptschule, fast 50 Prozent am Gymnasium).
Auch geschlechtergetrennter Unterricht ist keine Lösung. Er ist aufwendig, seine Wirkung aber umstritten. So besteht eine weitere Forderung darin, den Jungen mit „jungengerechten“ Unterrichtsmaterialien zu helfen. An verunsicherte Lehrkräfte wendet sich der neue Ratgeber „Jungen besser fördern“ (Cornelsen Verlag): „Jungen möchten gern den Umgang mit Hammer und Nägeln lernen, Jungen haben Spaß, ihre Kräfte zu messen, Jungen schreien sich auch einmal an, ohne beleidigt zu sein, Jungen lernen in einem eigenen Tempo“, schreibt Herausgeberin Gabriele Cwik, Schulrätin in Essen. Daraus folgt für sie: „Im Unterricht wird öfter eine Möglichkeit für einen Wettkampf eingebaut, gemeinsam werden Formen der körperlichen Auseinandersetzung erprobt, die keinen Schaden anrichten.“ Die Jungen sollen „Knobelaufgaben mit Fußballbundesligatabellen“ lösen. Um „Jungen mit dem Lesen zu versöhnen“, sollen Lehrerinnen ihnen lieber „Räuberpistolen“ als „Problemliteratur“ anbieten.
Von solchen Tipps hält Jürgen Budde wenig. Stereotype könnten sogar verstärkt werden, wenn im Unterricht auf Konkurrenz gesetzt wird. Im Gegenteil müssten die Lehrer den Jungen neue Wege zu ihrer Geschlechtsidentität aufzeigen. Auch sei die Annahme, die in der Schule ausgewählte Lektüre komme den Mädchen entgegen, nicht gesichert. Sie beinhalte wiederum die Gefahr „stereotype Leseinteressen vorauszusetzen“. „Alle Jungen mögen Fußball – das stimmt nun einmal nicht“, sagt auch Detlef Pech. Die Lehrer sollten die gesellschaftliche Prägung der Geschlechter nicht ignorieren, und natürlich gebe es schon in der ersten Klasse „Macker“, deren Interessen sie ansprechen müssten. „Aber wenn Lehrer Stereotype bedienen, schreiben sie sie fest, und das ist desaströs.“
So können negative Vorurteile Jungen gegenüber dazu führen, dass Lehrkräfte ihnen schlechtere Noten geben, wie aus Buddes Studie hervorgeht. Auch Eltern schätzen Jungen schlechter und vor allem unmotivierter ein als Mädchen. Schließlich zeigen die Jungen dann tatsächlich weniger Leistung.
Rollenstereotype wirken sich auch nachteilig auf Mädchen aus. So erklärten in einer von Budde zitierten Studie ein Viertel der befragten Mathematiklehrkräfte und ein Drittel der Physiklehrer, sie hielten Jungen für begabter als Mädchen. Mädchen werden denn auch häufiger aufgerufen, um den Stoff zu wiederholen und zusammenzufassen. Jungen werden hingegen eher nach neuen Sachverhalten und Ideen gefragt. Sie gelten demnach als „genial“, Mädchen als „fleißig“. Schon in der Grundschule wirkt sich das hemmend auf den Lernerfolg der Mädchen aus.
Budde und Pech fordern deshalb Lehrer, die in der Lage sind, „geschlechtersensibel“ zu unterrichten. Sie sollen die Geschlechterrollen und die gesellschaftlichen Erwartungen an sie reflektieren. Die Anforderungen an einen „geschlechtersensiblen Unterricht“ sind hoch, werden aber in der Lehrerausbildung kaum vermittelt, sagt Pech. Hilflos sind auch manche Bemühungen der Schulbuchverlage. So beobachtet Pech seit einiger Zeit in Schulbüchern Illustrationen mit Kindern, die keinem Geschlecht zuzuordnen sind. Damit wollen die Autoren die Gefahr von klischeehaften Zuschreibungen umschiffen. Doch: „Das ist fatal“, sagt Pech, denn die Kinder suchten nach „Anschlussmöglichkeiten“, um ihre Geschlechtsidentität zu entwickeln.
So könnten Lehrer durchaus an Bundesligatabellen rechnen üben lassen – aber ohne etwa zu erklären, dies sei eine Aufgabe für Jungen. Denn dann könnte sich ein Junge, der kein Interesse an Fußball hat, infrage gestellt sehen, ebenso wie ein fußballinteressiertes Mädchen. „Die Schüler entwickeln eine geschlechtliche Identität, aber die behauptete Eindeutigkeit ist nicht da“, sagt Pech. Mehr körperliche Bewegung in den Unterricht zu integrieren wird unter dieser Voraussetzung als Maßnahme verstanden, von der nicht nur Jungen, sondern auch Mädchen profitieren können.
Entsprechend könnten die Schulbücher sowohl Fotos vom Fußball als auch von Pferden mit Mädchen und Jungen abbilden. „Die Lehrer sollen beiden Geschlechtern die Vielfalt der Möglichkeiten zeigen“, sagt Pech. Je breiter das Angebot, desto höher die Chance, dass jedes Kind mit seiner Vorstellungswelt Möglichkeiten zum „Andocken“ findet. Nehmen Lehrer den kraftmeiernden türkischen Schüler nur als Pascha wahr, verkennen sie dessen Fürsorglichkeit als großer Bruder vieler kleiner Geschwister. Dessen Männlichkeitsnorm kann es durchaus zulassen, Windeln zu wechseln, berichtet Budde aus der Praxis – ein viel versprechender Anknüpfungspunkt für die Klasse.
Männlichkeit ist „eine soziale Tatsache“, sagt Budde. Doch so, wie sich in den vergangenen 30 Jahren die Rollen der Frau aufgefächert hätten, könne sich auch das Männerbild wandeln – und dennoch die Bildung „einer stabilen Identität“ erlauben.
Jungen sind das neue schwache Geschlecht, lautet eine verbreitete These. Schon seit einigen Jahren bemühen sich viele Pädagogen und Journalisten, die Aufmerksamkeit weg von den lange als benachteiligt geltenden Mädchen hin zu den Jungen zu lenken. „Die Krise der kleinen Männer“, titelte die „Zeit“, „Böse Buben, kranke Knaben“ textete der „Spiegel“ und „Naht die Männerdämmerung?“, fragte die „Stuttgarter Zeitung“. Immer neue Bücher erscheinen mit Titeln wie „Kleine Jungs – Große Not“, „Jungen in der Krise“ oder „Die Jungenkatastrophe“.
Der Befund: Die Jungen sind von den Mädchen beim Abitur überholt worden, während sie unter den Hauptschülern und Schulabbrechern (58 Prozent) und Sitzenbleibern (2,7 Prozent des Jahrgangs 2007 gegenüber 2,2 Prozent bei den Mädchen) die Mehrheit stellen.
Die Ursache sehen die Autoren darin, dass die Schule sich jahrzehntelang auf die Mädchenförderung fokussiert habe. Auch würden die überwiegend weiblichen Lehrkräfte die Jungen – sei es unbeabsichtigt – zu einem Verhalten zwingen, das sich am weiblichen Geschlecht orientiere. So werde die männliche Bewegungslust von Lehrerinnen als Störung angesehen, ebenso wie „spielerisches Kräftemessen“, „mit dem Jungen eine spätere männliche Qualität im Berufsleben einüben, Fairplay statt Zickenterror“, wie der Buchautor Thomas Gersterkamp schreibt. An den Maßstäben für Mädchen gemessen und um männliche Rollenvorbilder gebracht, versagten viele Jungen schließlich.
„Droht eine Verweiblichung der Schule?“, fragte folgerichtig die „Rheinische Post“, und der „Tagesanzeiger“ aus Zürich erklärte unter der Überschrift „Kampf für eine männlichere Schule“: „Das Phänomen der weiblichen Schule hat ein ungesundes Ausmaß erreicht.“ Als unlängst der vom Verein der Bayerischen Wirtschaft (VBW) initiierte „Aktionsrat Bildung“ sein Jahresgutachten zu „Geschlechterdifferenzen im Bildungssystem“ präsentierte, stellte VBW-Präsident Randolf Rodenstock fest: „Die Bildungsungleichheit zwischen Mädchen und Jungen überschreitet die Grenzen des rechtlich und moralisch Hinnehmbaren.“
Ein ganzes Geschlecht kommt in der Schule zu kurz – das wäre ein Skandal. Doch sind die Jungen wirklich die Verlierer im Bildungssystem? Nein, sagt Detlef Pech, Professor für Grundschulpädagogik an der Humboldt-Universität: „Der aktuelle Jungen-Diskurs verkürzt die Realität tragisch.“ In der Tat würden mehr Jungen scheitern als Mädchen. Bedroht seien aber keineswegs alle Jungen, sondern solche aus schwachen sozialen Milieus, darunter viele mit Migrationshintergrund. Auch Mädchen aus sozial schwachen Familien versagen dramatisch häufig: „Darum darf man die benachteiligten Schüler nicht gegeneinander ausspielen.“
Der Männerforscher Jürgen Budde von der Universität Halle-Wittenberg, der im Auftrag des Bundesbildungsministeriums die Studie „Bildungs(miss)erfolge von Jungen“ erstellt hat, sieht das genauso. Offenbar habe es aber einen höheren Sensationswert, „die Jungen“ in Gefahr zu sehen, anstatt sich den abgehängten Migrantenjugendlichen beider Geschlechter zuzuwenden. Budde, der selbst mit Jungengruppen arbeitet, sieht in der Debatte aber auch „antifeministische Züge“. Es gehe um Verteilungskämpfe, etwa um Geld für die Jungenförderung.
Budde kritisiert auch, dass die Diskussion Jungen einseitig negative Merkmale zuschreibt. Dabei seien die meisten Jungen durchschnittlich, manche sogar sehr erfolgreich in der Schule: So sind Jungen bei Pisa in Mathematik und den Naturwissenschaften häufiger in der Spitzengruppe vertreten als Mädchen. Der Abstand zwischen einem deutschen Professorensohn und dem Sohn eines arabischen Hilfsarbeiters ist weit größer als zwischen Mädchen und Jungen insgesamt.
So haben im Jahr 2007 von den männlichen Schulabgängern ohne deutschen Pass zwei Drittel keinen Abschluss oder nur den Hauptschulabschluss gemacht. Auch ein Mädchen ohne deutschen Pass hat aber ein erheblich höheres Risiko auf nur den Hauptschulabschluss oder gar keinen Abschluss als ein deutscher Junge (53 Prozent gegenüber 32 Prozent). Wenn also das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln (IW) mitteilt: „Nicht alle Jungen sind Verlierer, aber: Die Verlierer im deutschen Bildungssystem sind männlich“, ist das schlicht falsch.
Bildungserfolge hängen sehr stark von der sozialen Herkunft ab. Als weiterer Faktor kommt das Geschlecht hinzu. Insofern muss durchaus gefragt werden, wie Jungen und Mädchen optimal zu fördern sind. Denn beide Geschlechter werden gemäß der gesellschaftlichen Normen und Stereotype geprägt, die zu Erfolgen oder Misserfolgen in Bildung und Beruf beitragen.
So wollen zumal Jungen aus bildungsferneren Schichten traditionelle Männerberufe im Handwerk und der Industrie ergreifen – angesichts des Wandels zur wissensbasierten Dienstleistungsgesellschaft eine riskante Strategie, wie Budde schreibt. Arbeitslosigkeit trifft Männer aber besonders hart, weil Erwerbstätigkeit für ihre Geschlechtsidentität bedeutender ist als für Frauen: „Der Weg: Dann werde ich Hausfrau und Mutter ist ihnen versperrt“, sagt Budde.
Auch in der Schule können sich Männlichkeitsnormen nachteilig auswirken. Wer unter seinen Mitschülern nicht als Streber, sondern als „echter Junge“ anerkannt sein will, hat den Beweis dafür zu erbringen, indem er Lesen „uncool“ findet und im Unterricht stört. Von einem solchen „negativen Männlichkeitsdruck“ getrieben fühlen sich zumal solche Schüler, deren soziale Herkunft ihnen sonst kaum Chancen für andere „Statusgewinne“ eröffnet.
Andererseits werde „typisches Jungenverhalten“ wie „Konkurrenzorientierung und Quatschmachen“ von Pädagogen aber auch für die Vorteile von Jungen verantwortlich gemacht, für ihr Selbstbewusstsein und ihre Dominanz im Unterricht. Angesichts solcher Widersprüche stellt Budde fest: „So klar, wie es ist, dass auch Jungen besonderer Unterstützung in der Schule bedürfen, so unklar ist jedoch, in welche Richtung diese gehen soll.“
Würde eine Männerquote helfen, wie der Pädagoge Klaus Hurrelmann sie gefordert hat? Überwältigend hoch ist der Anteil von Lehrerinnen nur in der Grundschule (88 Prozent). Wenn es um die Leistungen in Mathematik und Naturwissenschaften geht, gibt es am Ende der Grundschulzeit aber „mitnichten ein gender gap“, schreiben die Forscher der großen Schuluntersuchung Timss: Jungen leisten so viel wie Mädchen. Und aus der Iglu-Studie geht hervor, dass Jungen, die von Männern im Lesen unterrichtet wurden, nicht besser abschneiden als solche, die eine Lehrerin hatten (siehe auch nebenstehenden Artikel). Der Abstand zwischen Jungen und Mädchen vergrößert sich erst in der Oberschule – obwohl dort weit mehr Männer arbeiten (42 Prozent in der Hauptschule, fast 50 Prozent am Gymnasium).
Auch geschlechtergetrennter Unterricht ist keine Lösung. Er ist aufwendig, seine Wirkung aber umstritten. So besteht eine weitere Forderung darin, den Jungen mit „jungengerechten“ Unterrichtsmaterialien zu helfen. An verunsicherte Lehrkräfte wendet sich der neue Ratgeber „Jungen besser fördern“ (Cornelsen Verlag): „Jungen möchten gern den Umgang mit Hammer und Nägeln lernen, Jungen haben Spaß, ihre Kräfte zu messen, Jungen schreien sich auch einmal an, ohne beleidigt zu sein, Jungen lernen in einem eigenen Tempo“, schreibt Herausgeberin Gabriele Cwik, Schulrätin in Essen. Daraus folgt für sie: „Im Unterricht wird öfter eine Möglichkeit für einen Wettkampf eingebaut, gemeinsam werden Formen der körperlichen Auseinandersetzung erprobt, die keinen Schaden anrichten.“ Die Jungen sollen „Knobelaufgaben mit Fußballbundesligatabellen“ lösen. Um „Jungen mit dem Lesen zu versöhnen“, sollen Lehrerinnen ihnen lieber „Räuberpistolen“ als „Problemliteratur“ anbieten.
Von solchen Tipps hält Jürgen Budde wenig. Stereotype könnten sogar verstärkt werden, wenn im Unterricht auf Konkurrenz gesetzt wird. Im Gegenteil müssten die Lehrer den Jungen neue Wege zu ihrer Geschlechtsidentität aufzeigen. Auch sei die Annahme, die in der Schule ausgewählte Lektüre komme den Mädchen entgegen, nicht gesichert. Sie beinhalte wiederum die Gefahr „stereotype Leseinteressen vorauszusetzen“. „Alle Jungen mögen Fußball – das stimmt nun einmal nicht“, sagt auch Detlef Pech. Die Lehrer sollten die gesellschaftliche Prägung der Geschlechter nicht ignorieren, und natürlich gebe es schon in der ersten Klasse „Macker“, deren Interessen sie ansprechen müssten. „Aber wenn Lehrer Stereotype bedienen, schreiben sie sie fest, und das ist desaströs.“
So können negative Vorurteile Jungen gegenüber dazu führen, dass Lehrkräfte ihnen schlechtere Noten geben, wie aus Buddes Studie hervorgeht. Auch Eltern schätzen Jungen schlechter und vor allem unmotivierter ein als Mädchen. Schließlich zeigen die Jungen dann tatsächlich weniger Leistung.
Rollenstereotype wirken sich auch nachteilig auf Mädchen aus. So erklärten in einer von Budde zitierten Studie ein Viertel der befragten Mathematiklehrkräfte und ein Drittel der Physiklehrer, sie hielten Jungen für begabter als Mädchen. Mädchen werden denn auch häufiger aufgerufen, um den Stoff zu wiederholen und zusammenzufassen. Jungen werden hingegen eher nach neuen Sachverhalten und Ideen gefragt. Sie gelten demnach als „genial“, Mädchen als „fleißig“. Schon in der Grundschule wirkt sich das hemmend auf den Lernerfolg der Mädchen aus.
Budde und Pech fordern deshalb Lehrer, die in der Lage sind, „geschlechtersensibel“ zu unterrichten. Sie sollen die Geschlechterrollen und die gesellschaftlichen Erwartungen an sie reflektieren. Die Anforderungen an einen „geschlechtersensiblen Unterricht“ sind hoch, werden aber in der Lehrerausbildung kaum vermittelt, sagt Pech. Hilflos sind auch manche Bemühungen der Schulbuchverlage. So beobachtet Pech seit einiger Zeit in Schulbüchern Illustrationen mit Kindern, die keinem Geschlecht zuzuordnen sind. Damit wollen die Autoren die Gefahr von klischeehaften Zuschreibungen umschiffen. Doch: „Das ist fatal“, sagt Pech, denn die Kinder suchten nach „Anschlussmöglichkeiten“, um ihre Geschlechtsidentität zu entwickeln.
So könnten Lehrer durchaus an Bundesligatabellen rechnen üben lassen – aber ohne etwa zu erklären, dies sei eine Aufgabe für Jungen. Denn dann könnte sich ein Junge, der kein Interesse an Fußball hat, infrage gestellt sehen, ebenso wie ein fußballinteressiertes Mädchen. „Die Schüler entwickeln eine geschlechtliche Identität, aber die behauptete Eindeutigkeit ist nicht da“, sagt Pech. Mehr körperliche Bewegung in den Unterricht zu integrieren wird unter dieser Voraussetzung als Maßnahme verstanden, von der nicht nur Jungen, sondern auch Mädchen profitieren können.
Entsprechend könnten die Schulbücher sowohl Fotos vom Fußball als auch von Pferden mit Mädchen und Jungen abbilden. „Die Lehrer sollen beiden Geschlechtern die Vielfalt der Möglichkeiten zeigen“, sagt Pech. Je breiter das Angebot, desto höher die Chance, dass jedes Kind mit seiner Vorstellungswelt Möglichkeiten zum „Andocken“ findet. Nehmen Lehrer den kraftmeiernden türkischen Schüler nur als Pascha wahr, verkennen sie dessen Fürsorglichkeit als großer Bruder vieler kleiner Geschwister. Dessen Männlichkeitsnorm kann es durchaus zulassen, Windeln zu wechseln, berichtet Budde aus der Praxis – ein viel versprechender Anknüpfungspunkt für die Klasse.
Männlichkeit ist „eine soziale Tatsache“, sagt Budde. Doch so, wie sich in den vergangenen 30 Jahren die Rollen der Frau aufgefächert hätten, könne sich auch das Männerbild wandeln – und dennoch die Bildung „einer stabilen Identität“ erlauben.