Gewaltandrohung ernst nehmen


[Stuttgarter-Nachrichten, 22.07.2009]


Stuttgart - Was macht junge Männer zu Amokläufern? Wie lassen sich Gewalttaten wie in Winnenden verhindern? Darüber diskutierten Landtagsabgeordnete am Mittwoch in Stuttgart mit Expertinnen für Kinder- und Jugendkriminalität. Der Landtag hat sich ein großes Ziel gesetzt. "Wir wollen Erkenntnisse ummünzen in politisches Handeln", sagte Christoph Palm, Leiter des Landtags-Sonderausschusses Winnenden, am Mittwoch in Stuttgart. Am Ende des Jahres will das 18-köpfige Gremium, das nach dem Amoklauf im März in Winnenden und Wendlingen eingesetzt wurde, dem Parlament konkrete politische Vorschläge machen.

"Aufmerksamkeit und Zuwendung erscheinen mir unabdingbar, um Gewalt vorzubeugen", so Palm. Während die Abgeordneten bisher hinter verschlossenen Türen tagten, war die Anhörung der Expertinnen öffentlich. Im Mittelpunkt stand die Frage, wie sich Gewalttaten und insbesondere Amokläufe verhindern lassen.

Britta Bannenberg hat klare Vorstellungen, was sich ändern muss: Hinsehen. Vor fast jedem Amoklauf habe es Hinweise gegeben, beispielsweise Andeutungen gegenüber Mitschülern. Jede Drohung müsse ernstgenommen werden, auch wenn sie sich im Nachhinein als Bluff herausstelle. "Wer ernsthaft eine Gewalttat vorhat, distanziert sich nicht von seinem Plan", sagte Bannenberg. Seit 2002 beschäftigt sich die Kriminologin von der Universität Gießen mit sogenannten Amokläufen. Die Auswertung von 15 Fällen im In- und Ausland zeige bei allen Tätern Ähnlichkeiten in der Persönlichkeit: Alle jungen Männer hätten sich zurückgezogen, seien relativ still und unauffällig gewesen. Außerdem hätten sie sich sehr schnell gekränkt gefühlt. Sie verbrachten viel Zeit mit Gewaltspielen am Computer und waren allesamt Waffennarren. Ihre Eltern hätten zwar gewusst oder geahnt, dass ihre Söhne Probleme hatten, hätten aber nichts getan. Bannenberg sieht allerdings nicht nur die Familie, sondern auch die Schule gefordert. "Die Schulen sind der Schlüssel, dort verbringen Kinder einen Großteil ihrer Zeit", so die Juristin.

Lehrer müssten Opfern frühzeitig beistehen und Täter stoppen, um ein gutes Schulklima zu erhalten. Auch dürften sich Lehrer und Eltern bei Schwierigkeiten nicht gegenseitig die Schuld zuschieben. Wenn Eltern in kritischen Situationen die Bemühungen der Lehrer nicht unterstützen, müsse notfalls jedoch die Polizei eingeschaltet werden. Großen Verbesserungsbedarf sieht Bannenberg bei der Lehrerausbildung. Die angehenden Pädagogen müssten stärker für Gewalt sensibilisiert werden und lernen, Konflikte auszutragen statt zu ignorieren. Mit großen Gruppen und Klassen in Kindergärten und Schulen ist es nach Ansicht von Bannenberg allerdings kaum möglich, den einzelnen Kindern gerecht zu werden. Zudem fehlten Kinder- und Jugendpsychologen. Sabrina Hoops vom Deutschen Jugendinstitut warnte davor, die Situation in Deutschland mit der in den USA zu vergleichen. "Eine Serie ist nicht erkennbar", sagte die Pädagogin. Aber die Bluttat von Columbine für alle Täter in Deutschland eine Art Vorbild. Gesellschaftliche Rahmenbedingungen seien wichtig, aber nicht die Hauptursache für Amokläufe. Ausschlaggebend sei die Persönlichkeit.
Auffällig, aber nicht erstaunlich ist für Kirsten Bruhns, dass bisher alle Amokläufe von jungen Männern begangen wurden. Jungen richten ihre Aggressionen eher nach außen, Mädchen gegen sich selbst, sagte die Soziologin vom Deutschen Jugendinstitut. Allerdings sei das keine Garantie - die Gewalttätigkeit von Mädchen sei in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Für Jungen sei es wichtig, positive männliche Vorbilder in der Wirklichkeit zu erleben - beispielsweise als Erzieher im Kindergarten oder Lehrer in der Grundschule.

Maria Wetzel