„Mädchen haben die Jungen überholt“



[NWZ Online]


Zukunftstag Wilfried Bos fordert ein ausgeglichenes Rollenverhältnis – Frauen scheuen die Karriere


von Jessica Chmura


FRAGE: Herr Bos, der Aktionsrat Bildung bemängelt eine „eklatante Minderbeteiligung von Jungen an höheren Formen des Bildungsgeschehens“. Haben die Mädchen die Jungen in der Schule abgehängt?


BOS: Die Mädchen haben die Jungen definitiv überholt. Noch haben die Jungen leichte Vorteile in Mathematik und Naturwissenschaften, aber in Deutsch und beim Lesen liegen die Mädchen ganz eindeutig weit vorn.

FRAGE: Woran liegt das?


BOS: Ich meine, dass etwa der Nachteil der Jungen im Lesen dadurch zustande kommt, dass die Themen einfach nicht ihre Interessen treffen. Sie wollen ja lernen. Aber Jungen sind leistungsorientierter und interessieren sich mehr für Wettkämpfe statt für Beziehungstexte, wie sie in der Schule häufig gelesen werden. Diese Themen kommen den Mädchen entgegen. Würde andererseits der Chemieunterricht anhand von Kosmetik erklärt werden, wäre er auch für die Mädchen interessanter.

FRAGE: Also sollte der Schulunterricht reformiert werden?


BOS: Schule ist so, wie sie jetzt organisiert ist, nicht unbedingt etwas für Jungen. Sie zeigen allgemein mehr Verhaltensauffälligkeiten, raufen und toben gern, und entwicklungspsychologisch kommt dazu, dass es Jungen schwerer fällt, lange Zeit ruhig zu sitzen. Das können die Mädchen besser.

FRAGE: Leisten Jungen tatsächlich weniger, oder werden Mädchen schlicht besser bewertet?


BOS: Jungen leisten oft weniger. Wenn aber Jungen und Mädchen Gleiches leisten, werden die Mädchen besser bewertet.

FRAGE: Leistungsorientierung ist Männersache, Kosmetik etwas für Frauen – das klingt nach einer ziemlich oberflächlichen Rolleneinteilung...


BOS: Ähnlich verhält es sich leider auch. Natürlich wäre es schöner, wir hätten ein ausgeglichenes Rollenverhältnis. Die Frauen sind zwar leistungsstärker in der Schule, sind gut ausgebildet und arbeiten bis ins Studium hinein sehr motiviert – jedoch verweigern sie sich der Karriere. Sie trauen sich in der Regel weniger zu, als sie können, und lassen den schlechter qualifizierten Männern den Vortritt. Andere denken an ihre Familienrolle und wollen sich lieber um ihre Kinder kümmern, anstatt Karriere zu machen.

FRAGE: Haben Bildungspolitiker über die schulischen Defizite der Jungen jahrelang hinweggesehen?


BOS: Sie hatten in den letzten 30 Jahren eine sehr einseitige Sichtweise. In die Diskussion um die Benachteiligung der Frau passten die benachteiligten Jungen eben nicht hinein.

FRAGE: Ist es an der Zeit, das Augenmerk verstärkt auf die Förderung der Jungen zu legen – etwa mit einem „Zukunftstag“?


BOS: Von solchen speziellen Tagen halte ich nichts. Offensichtlich geht das Bildungssystem weniger auf die Bedürfnisse und Interessen der Jungen ein und hat sie aus den Augen verloren, das war einfach nicht im Trend. Doch es ist ebenso ein genereller Fehler im System. Man müsste mehr Männer in die Kindergärten und die Grundschulen holen, das scheitert oft schon an der geringen Bezahlung. Männer finden dort praktisch nicht statt und fehlen – auch dann, wenn zu Hause nur die Mutter die Erziehung übernimmt und der Vater arbeitet, und auch im Kindergarten und der Grundschule nur Frauen für die Ausbildung zuständig sind. Auch hier wäre ein ausgeglichenes Rollenverhältnis wünschenswert.


FRAGE: Wirken sich die Nachteile, die Jungen in der Schule haben, denn gar nicht auf ihre berufliche Karriere aus?


BOS: Eher weniger. Das, worin die Jungen in der Schule noch zurückbleiben, gleicht sich im Berufsleben wieder aus. Ein Mann fragt nicht erst, ob er die Aufgabe meistern kann, sondern erledigt sie einfach irgendwie. Gut ausgebildete Frauen hingegen ziehen sich da schneller zurück. Für das Gemeinwesen ist es gar nicht gut, wenn häufig weniger gut ausgebildete Männer Karriere machen. Doch da nimmt die Wirtschaft die schlechteren aber willigeren Männer.

FRAGE: Sie fordern also mehr Frauen in Führungspositionen?


BOS: Frauen sind bestens ausgebildet, trauen sich Führungspositionen aber trotz super Noten nicht zu. Das ist für die Gesellschaft schlecht, weil Frauen damit ihre Kompetenzen dem gesellschaftlichen Nutzen entziehen.

Prof. Dr. Wilfried Bos ist Leiter des Instituts für Schulentwicklungsforschung an der Technischen Universität Dortmund.

Arbeitsschwerpunkten gehören Empirische Forschungsmethoden, Qualitätssicherung im Bildungswesen, Internationale Bildungsforschung, Evaluation sowie Pädagogische Chinaforschung.

ist Bos Mitglied des Aktionsrats Bildung. Das Expertengremium aus renommierten Bildungswissenschaftlern beschäftigt sich auf der Basis umfassender Expertisen und Forschungen mit der gegenwärtigen Situation im deutschen Bildungssystem und bewertet diese.

Jahresgutachten 2009 beschäftigen sich die Wissenschaftler mit „Geschlechterdifferenzen im Bildungssystem“. Darin fordern sie, dass das deutsche Bildungssystem sich viel stärker der Heterogenität annehmen müsse. Ebenfalls sollten Differenzen zwischen den Geschlechtern betrachtet und praktische Konsequenzen abgeleitet werden.