Die Krise der kleinen Männer

DIE ZEIT

Jungen sind die neuen Sorgenkinder des Bildungssystems. Sie kommen mit den veränderten Anforderungen der Schule schlechter zurecht als Mädchen. Getrennter Unterricht könnte beiden Geschlechtern helfen.



Von Martin Spiewak


Wer den Boden berührt, hat verloren. In einem Kreis liegen Kissen, die Jungen springen von einem zum nächsten. David (Namen der Kinder geändert) scheidet als Erster aus. Als Zweiter tritt Marco daneben. Und anders als sein Klassenkamerad kommt er damit nicht zurecht. Marco will keine Regeln. Marco springt vom Pult. Er wackelt mit den Hüften, singt Sexy girl dazu. Marco schlägt, setzt sich allein in die Ecke, weint. Eben noch markierte der siebenjährige Junge den starken Mann, nun versteckt er sich hinter dem Vorhang. Die Klassenkameraden spotten: »Tauschen wir Marco doch gegen ein Mädchen.« Das sitzt.


Gefühle sind immer im Spiel, wenn Ayhan Tasdemir Jungenstunde hält. Jeden Mittwochmorgen widmet sich der Sozialarbeiter Tasdemir den schwierigen Jungen aus der Klasse 1a. Während ihre Klassenkollegen Sachunterricht haben, schulen Tasdemirs Schützlinge mit speziellen Übungen ihre Konzentrationsfähigkeit und ihren Teamgeist. Marco ist dabei, der schnell zulangt, sowie Paul, der kaum länger als zehn Minuten still sitzen kann. Tasdemir kündigt die nächste Übung an: »Jetzt machen wir uns stark.« Die vier Erstklässler klopfen sich auf Brust, Arme und Schultern.


Stärke gewinnen – das haben Jungen nicht nur an der Hamburger Rudolf-Roß-Schule nötig. Sie gelten als die neuen Sorgenkinder des Bildungssystems, spätestens seit dem ersten Pisa-Test. Ihre Leseleistungen hinken denen der Mädchen um rund ein Schuljahr hinterher. Sie werden häufiger wegen Unreife vor der Einschulung zurückgestellt. Weniger Jungen als Mädchen erreichen das Gymnasium, und weniger schaffen später das Abitur. Dafür landen Jungen häufiger auf der Hauptschule. Zwei Drittel der Sonderschüler und Schulabbrecher sind männlich. Zwar haben in der Berufswelt – noch – weitgehend Männer das Sagen. In der Schule jedoch verschärfen sich die Krisensymptome für die Jungen. War die Verteilung der Sitzenbleiber 1990 noch 50 zu 50, so liegt sie heute bei 62 Prozent zu ihren Ungunsten.


Eltern von Jungen müssen mit besonders viel Ärger rechnen


Die Jungen bleiben zurück. Im Osten Deutschlands ist das ganz wörtlich zu nehmen, wie eine neue Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung deutlich macht. Vor allem junge, gut ausgebildete Frauen verlassen demnach in Scharen die neuen Bundesländer – während Männer mit schlechten Abschlüssen daheim sitzen bleiben. Die Ursache sehen die Autoren in der »erheblichen Benachteiligung der Jungen im Schulsystem«.
Statistisch gesehen, müssen sich Eltern auf Ärger einstellen, wenn es bei der Geburt heißt: »Es ist ein Junge.« Denn egal, ob Schreibabys oder Zappelphilipps, Legastheniker oder Computerjunkies, Söhne beschäftigen die pädagogischen Beratungsstellen weit stärker als Töchter. Später werden Jungen häufiger Opfer von Unfällen, begehen öfter Selbstmord oder werden drogenabhängig. Ihre Deliktrate ist laut dem Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen achtmal so hoch wie jene der Mädchen.


Viel zu tun also für Leute wie Ayhan Tasdemir. Er gehört zu einer relativ neuen Spezies von Pädagogen, die sich der Jungenarbeit verschrieben haben. An der Rudolf-Roß-Schule kümmert sich der türkischstämmige Mittvierziger vornehmlich um die männlichen Schüler, und zwar keinesfalls nur um die verhaltensauffälligen. Tobespiele auf dem Schulhof oder eine Fahrradwerkstatt gehören ebenso zu seinem pädagogischen Angebot wie Gärtnern und Kochen. Das Prinzip ist stets dasselbe: Die Jungs bleiben unter sich.


Zur Belohnung gibt es ein Haushaltsüberlebenszertifikat


Mädchen genossen dieses Privileg an der Rudolf-Roß-Schule bereits früher. Sie verfügten über einen Rückzugsraum, erhielten eigenen Computerunterricht. »›Und wir?‹, fragten sich irgendwann die Jungs«, erinnert sich Tasdemir. Auch den Lehrern, sagt Schulleiter Jan Baier, sei aufgefallen, dass »eher die Jungen Probleme machen«. Heute haben auch sie drei Zimmer, zu denen nur sie und ihre Geschlechtsgenossen Zutritt haben. »Auch wenn sie sich stark geben, sind viele Jungen unsicher«, sagt Tasdemir, »das versuchen sie mit auffälligem Verhalten zu kompensieren.« In einem Schutzraum falle es seinen Schützlingen leichter, den Coolness-Druck abzulegen.


Außerhalb der Schule hat man die neue Zielgruppe bereits vor geraumer Zeit entdeckt. Streetworker veranstalten Anti-Gewalt-Programme für männliche Jugendliche. Verlage versuchen Pubertierende mit besonderen Literaturreihen (Für Mädchen verboten) zum Lesen zu bringen. Sogenannte Genderbeauftragte machen Jungen das Waschen und Putzen schmackhaft. Zur Belohnung für einen Kurs vergibt die Gleichstellungsstelle Bitburg ein »Haushaltsüberlebenszertifikat«.


Nun ist auch an den Schulen die Zeit der reinen Mädchenförderung vorbei, »Geschlechtergerechtigkeit« sei das Gebot der Stunde in deutschen Lehranstalten, sagt die schleswig-holsteinische Bildungs- und Frauenministerin Ute Erdsiek-Rave (SPD). Das bayerische Schulministerium hat einen »Arbeitskreis Bubenförderung« eingerichtet. Inzwischen ist es beim Verfassen neuer Schulprogramme und Lehrpläne in ganz Deutschland üblich, dass die Autoren nicht nur die speziellen Bedürfnisse von Schülerinnen erwähnen, sondern ebenso die ihrer männlichen Altersgenossen. Schwierige Jungs seien nicht allein ein Problem der Unterschicht oder von Migranten, sagt der Bielefelder Lehrer Uli Boldt, einer der Pioniere schulischer Jungenarbeit in Deutschland. Die meisten Einladungen zu Vorträgen erhalte er mittlerweile von Müttern von Gymnasiasten. »Die haben Angst, dass ihre Söhne den Anschluss verpassen zum Abitur.«
Natürlich sind Jungen schon immer lauter, dominanter, ja rüpelhafter als ihre weiblichen Klassenkameraden aufgetreten, ohne dass irgendjemand ein pädagogisch behandlungswürdiges Problem darin sah. Im Gegenteil, Präpotenz galt geradezu als Erfolgsstrategie der Jungen. Doch in der modernen Schule haben typisch männliche Tugenden – körperliche Kraft, Durchsetzungsstärke, Überlegenheitsstreben – an Wert verloren. Heute zählen stärker soziale Qualitäten wie Teamgeist, Empathie oder Kommunikationstalent, eher weibliche Attribute also. Auch bei den Ausbildungsplätzen macht sich dies bemerkbar: Während Lehrstellen in typischen Männerberufen wegbrechen, steigt ihre Zahl im Dienstleistungssektor, wo weiche Fähigkeiten (Soft Skills) gefragt sind.
Viele Jungen haben diesen Wandel noch nicht bemerkt. »Ihre Männlichkeitsbilder passen nicht mehr zu den Anforderungen der Schule«, diagnostiziert Jungenforscher Jürgen Budde von der Universität Hamburg. Statt sich wie die Mädchen »unterrichtskonform« zu verhalten, wie es im Pädagogendeutsch heißt, mimen sie vor Freunden weiterhin den wilden Kerl. Gerade im Mikrokosmos Schule ist der Gruppendruck, sich unangepasst (»gut drauf«, »cool«) zu geben, besonders groß. Zugespitzt formuliert: Bei den Kumpeln kommt an, wer provoziert; wer gute Noten hat, gilt als Streber.


Viele Jungenprojekte wollen solchen Stereotypen zu Leibe rücken. An der Gesamtschule Eilpe in Hagen zum Beispiel müssen alle Sechstklässler einen Kurs in Sachen Rollenfindung absolvieren – nach Geschlechtern getrennt. Wenn am Girls Day die Mädchen der Schule ausschwärmen, um typische Männerberufe zu erkunden, bleiben die Jungen nicht wie anderswo in der Schule, sondern lernen die Wirklichkeit in sozialen Berufen kennen. Und alle 14 Tage laden zwei Väter zur Koch-AG.


Die typische Kita ist weiblich. Aber die Kinder brauchen auch Männer
Sascha Denzel setzt noch früher an. Wenn es in der Johanna-Kirchner-Kita in Hamburg-Allermöhe um das Thema Mittelalter geht, versucht der Erzieher Denzel den Steppkes nahezubringen, dass Ritter nicht nur Lanzen, Pferde und Burgen kannten, sondern auch höflich waren und Tischsitten hatten. »Die Jungs interessiert zuerst das Kämpfen«, sagt er, doch daneben will er ihnen »neue Perspektiven eröffnen«: dass ein Junge auch Angst haben oder weinen darf.
Denzel sieht sein Geschlecht heute im Nachteil. Während Frauen verschiedene Lebensentwürfe offenstehen, in Familie wie Beruf, sind viele Männer noch auf ihre traditionellen Rollenmuster festgelegt. »Nehmen Sie die letzte Krippendebatte«, sagt Denzel, »da kamen Männer überhaupt nicht vor.«
Männer als Erzieher – das ist für viele Menschen noch immer schwer vorstellbar. Denzel wird oft gefragt, ob er ein Vater sei oder vielleicht der Leiter der Einrichtung. Nur drei Prozent der in Kitas Beschäftigten sind Männer. Denzel versucht den Mangel mit männlichen Praktikanten auszugleichen. Zudem bietet er spezielle Elternabende für Väter und Väter-Söhne-Wochenenden an.
»Kinder in Kitas brauchen Männer«, sagt Holger Brandes, Direktor des Instituts für Frühkindliche Bildung an der Evangelischen Hochschule in Dresden. Erzieher würden gelassener reagieren, beim Toben später eingreifen und damit den Interessen von Jungen eher entgegenkommen. Die typische Kita aber ist weiblich. Bücher, Spielzeuge und Räume seien eher auf Mädchen ausgerichtet, sagt Sascha Denzel. »Zum Verkleiden sollte es auch Schlipse oder Feuerwehrhelme geben«, fordert der Erzieher.


Verschlechtert die weibliche Übermacht in Kita und Schule die Chancen der Jungen? Eine Studie der Berliner Pädagogikprofessorin Renate Valtin stützt diesen Verdacht. Jungen erhielten bei gleicher Leistung in Deutsch und Sachkunde im Schnitt schlechtere Zensuren als Mädchen, hat Valtin ermittelt. Beim Diktateschreiben machen Jungen weniger Fehler, wenn Begriffe wie Ritter, Dinosaurier oder Fußball auftauchen – doch solche »Jungenwörter« kommen in orthografischen Tests seltener vor.


Doch nicht nur Lehrerinnen beurteilen die Jungen schlechter, sondern auch Lehrer. Ausgerechnet in der Grundschule, wo kaum Männer unterrichten, sind die Leistungsunterschiede zwischen den Geschlechtern am geringsten, während sie in den weiterführenden Schulen (wo das Geschlechterverhältnis ausgeglichener ist) am größten sind. Dass Grundschullehrerinnen also »Jungen nicht adäquat motivieren«, wie die Autoren des Berlin-Instituts schreiben, ist nicht bewiesen. Bislang prägen Vermutungen und Behauptungen die Jungendebatte. Frank Beuster, Autor des Buchs Jungenkatastrophe, behauptet etwa, dass Jungen hohe Frauenstimmen akustisch schlechter verstehen (»Mamataubheit«) und mehr Lob nötig haben als Mädchen. Belege? Keine.


Ohne feminine Ablenkung können Jungen sich besser konzentrieren


Nur spärliche Erkenntnisse hat die Wissenschaft auch über die Wirkungen reiner Jungenklassen – obwohl die Zahl der Schulen wächst, welche die Koedukation aufheben. Die Hagener Gesamtschule Eilpe zum Beispiel teilt die Klassen in den Fächern Technik, Sport und Informatik. Früher ging es in erster Linie darum, die Mädchen besser zu fördern. Inzwischen erhalten auch leseschwache Jungen spezielle Stützkurse.


Für die Mädchen kann sich der getrennte Unterricht durchaus auszahlen. Bleiben sie zum Beispiel im Physikunterricht unter sich, steigt ihre Überzeugung, eine Begabung für das Fach zu haben – eine wichtige Voraussetzung für höhere Lernleistungen. Die Geschlechterkonkurrenz spielt keine Rolle mehr. »Die Mädchen vergessen, dass sie Mädchen sind«, sagt Ursula Kessels von der Freien Universität Berlin.


Eine noch unveröffentlichte Untersuchung des Heidelberger Pädagogen Marc Böhmann legt nahe, dass Gleiches für Jungen gilt. Er beschäftigte sechs Hauptschulklassen – mal gemischt, mal getrennt – mit Literatur. Das Ergebnis: Ohne feminine Ablenkung konzentrierten sich die Jungen besser auf die Bücher, äußerten sich häufiger zu literarischen Figuren. Kaspereien und Machogehabe gingen zurück, das Lernklima verbesserte sich. »Einige Jungen waren wie umgepolt«, sagt Böhmann. Auch bei den Lehrern führte das monoedukative Lehren zu einer »bewussteren Haltung im Umgang mit den Geschlechtern«. Im Jungenunterricht wählten sie häufiger kürzere Texte mit Abenteuercharakter und männlichen Hauptfiguren. Als generelles Argument gegen die Koedukation will Böhmann seine Studie jedoch nicht verstanden wissen. Nur phasenweise – etwa in der Pubertät – und in bestimmten Fächern sei der getrennte Unterricht sinnvoll.


Pädagogen warnen vor Gefahren allzu strikter Geschlechtertrennung. »Es gibt auch Jungen, die keine Abenteuergeschichten mögen, oder Mädchen, die sehr dominant sind«, sagt die Hamburger Erziehungswissenschaftlerin Hannelore Faulstich-Wieland. Statt künstlich zu separieren, verlangt Faulstich-Wieland, die Bedürfnisse beider Geschlechter zu berücksichtigen und verschiedene Lehrstile miteinander zu verbinden. Ein Lehrer, der die gesamte Klasse erreichen will, unterrichtet mal frontal, mal in Gruppen. Er behandelt Jungenbücher ebenso wie Mädchenliteratur. Eine gute Pädagogik hat Jungen und Mädchen im Blick. Egal, ob sie getrennt sind oder zusammen in einem Klassenzimmer. Weitere informationen im Internet:http://www.schulministerium.nrw.de/http://www.jungenarbeit.info/http://www.neue-wege-fuer-jungs.de/ http://www.genderundschule.de/ira http://gender.schule.at/ http://www.nfer.ac.uk/
Pro & Contra: Sollen Jungen und Mädchen getrennt unterrichtet werden? Ja, sagt der Hauptschullehrer Marc Böhmann.Nein, sagt Marianne Horstkemper, Pädagogikprofessorin der Universität Potsdam.Diskutieren Sie hier mit!


DIE ZEIT, 07.06.2007 Nr. 24


24/2007