Vielen Frauen ist der Chefsessel nicht wichtig

[Faz.net, 12. Januar 2010]

Frauen arbeiten lieber mit Menschen als mit Maschinen oder Zahlen, sagt die Psychologin Susan Pinker. Nur die wenigsten hätten Ambitionen auf den Chefsessel - weil ihnen Familie und Freizeit genauso wichtig seien, wie die Karriere. Die Schuld schiebt sie auf die Hormone. Ein Interview.

Frau Pinker, Sie behaupten, das 21. Jahrhundert gehöre den Frauen. Wie kommen Sie auf die Idee?

Sie müssen sich nur umschauen: Die Mädchen hängen die Jungs ab, an der Schule genau wie an der Universität. Zurück bleibt eine beunruhigende Zahl junger Männer, die Probleme bekommen.

Sie machen sich Sorgen um die Männer von morgen?

Absolut. Unter ihnen finden sich viele Verlierer. Schon jetzt gibt es deutlich mehr auffällige Jungen als Mädchen; Jungen leiden häufiger unter Konzentrations- und Lernschwächen sowie sozialer Inkompetenz. Gehen Sie einmal zum Kinderpsychologen, zum Sozialarbeiter, in den Jugendstrafvollzug: Dort werden Sie kaum Mädchen finden.

Sie haben als Kinderpsychologin gearbeitet. Verallgemeinern Sie in Ihrem Bestseller „Begabte Mädchen, schwierige Jungs“ nicht einfach Ihre Erfahrungen?

Nein, alle Studien bestätigen: Wir müssen uns um den männlichen Nachwuchs kümmern. Wenn die Gender-Forschung nur ein Zehntel des Geldes, das sie bislang in die Förderung von Frauen investiert, den Jungen zugutekommen ließe, wäre viel erreicht.

Sie meinen, Frauenförderung gehört abgeschafft?

Ich meine, dass Frauen in der westlichen Welt ihre Berufe heute frei wählen können - und das auch tun. Sie können noch so viele „girls days“ an technischen Hochschulen veranstalten: Mehr Ingenieurinnen locken Sie damit nicht an.

Frauen studieren lieber Literatur als Physik?

So ist es. Männer und Frauen haben unterschiedliche Präferenzen. Frauen interessieren sich häufiger für Shakespeare als für Nanoteilchen, sie arbeiten lieber mit Menschen als mit Maschinen oder Zahlen, werden lieber Lehrerin oder Ärztin als Computer-Fachfrau.

Weil sie das eingetrichtert bekommen!

Es gibt genetische Unterschiede zwischen Männern und Frauen, die können Sie nicht leugnen.

Achtung, hier begeben Sie sich auf gefährliches Terrain.

Ich weiß, der Stoff ist politisch explosiv. Aber schauen Sie: Ich hatte einmal einen Jungen mit Asperger-Syndrom in Behandlung, einer Form des Autismus. Bob war ein Ass in Mathe, begabt im Umgang mit Computern, aber ein Außenseiter mit sozialen Defiziten. Er studiert mittlerweile, will später Computerspiele entwickeln. In der Branche sind Typen wie er glücklich. Die meisten Mädchen dagegen würden verzweifeln.

Mit dem Asperger-Syndrom greifen Sie einen Extremfall heraus.

Es ist nur ein Beispiel. Aber Fakt ist: Unter Männern tritt diese genetische Störung zehnmal so häufig auf wie unter Frauen. Wenn Sie nun per Quote vorgäben, die Hälfte der Computerspiele müssten von Frauen entwickelt werden, würden Sie wenige Frauen finden, die dazu bereit wären. Und Sie würden Jungs um eine Arbeit bringen, die ihnen Spaß macht.

Die Feministin Simone de Beauvoir hat gesagt: „Man wird nicht als Frau geboren, sondern dazu gemacht.“ Hat sie sich geirrt?

Neue Studien der Neurowissenschaften zeigen deutlich: Die Frau ist nicht das Abziehbild des Mannes, es gibt angeborene Unterschiede, auch wenn die Vorstellung abschreckt, weil sie lange als Vorwand für die Unterdrückung der Frau missbraucht wurde.

Sie leugnen 40 Jahre Feminismus.

Ich selbst war Teil der frühen Frauenbewegung und dachte: Wenn wir alle gesellschaftlichen Barrieren einreißen, sind Männer und Frauen gleich. Aber ich musste lernen, dass das falsch ist. Das hat mich anfangs verwirrt. Irgendwann ist daraus die Idee zu meinem Buch entstanden.

Also gut: Warum spielen Jungs mit Autos, Mädchen mit Puppen?

Weil sie unterschiedliche genetische Voraussetzungen haben. Es gibt auch Mädchen, die gerne mit Autos spielen. Aber die Mehrheit greift zur Puppe.

Woher kommt das?

Dahinter stecken die Hormone. Bei Männern spielt das Testosteron eine große Rolle, es macht sie abenteuerlustig, kampfbereit, aggressiv. Frauen hingegen können sich gut einfühlen in andere, haben Mitgefühl. Auch das geht auf ein Hormon, Oxytozin, zurück. Schon im Säuglingsalter reagieren Mädchen auf Gesichter, Jungen auf mechanische Pendel.

Hormone entscheiden über unsere Karriere?

Ich habe eine Frau kennengelernt, die war Professorin in Stanford, hatte also alles erreicht, wovon Wissenschaftler träumen. Und eines Tages entschließt sie sich, zu kündigen, und wird Lehrerin. Sie erhält deutlich weniger Geld, genießt weniger Ansehen, dafür hat sie weniger Stress. Es gibt viele solcher Lebensläufe bei Frauen. Die steigen Stufe um Stufe in ihrem Beruf auf - und plötzlich machen sie etwas ganz anderes. Die Petroingenieurin wird Fitnesstrainierin, die Uniprofessorin wechselt in die Grundschule. Und wissen Sie was? Sie sind meist zufriedener als zuvor. Endlich haben sie Zeit für Familie, Hobbys, Freunde.

Frauen verzichten auf Karriere, um mit dem Dackel spazieren zu gehen?

Um Sachen zu tun, die ihnen wichtig sind. Nur zehn, fünfzehn Prozent der Frauen wollen sich bis an die Spitze durchbeißen - und sind bereit, dafür so viel zu opfern, wie Männer das tun. Den meisten Frauen ist der Chefsessel nicht wichtig. Eine erfolgreiche Frau sattelt gerne um, einen Mann spornt der Erfolg zu noch mehr Ehrgeiz an.

Es gibt also gar keine Seilschaften zwischen Männern, die den Aufstieg der Frauen behindern?

Doch. Aber das Phänomen wird überbewertet. Ich habe mich nie diskriminiert gefühlt, und die Frauen, die zu mir in die Praxis kommen, klagen auch nicht darüber. Die haben andere Probleme.

Welche?

Sie schämen sich dafür, auszuscheren aus dem männlichen Verhaltensmuster, wenn sie eine Beförderung ablehnen. Sie sind verzweifelt, weil sie einen aus Karrieresicht tollen Job haben, sich darin aber unwohl fühlen.

Also liegt es in unseren Genen: Frauen gehören an den Herd?

Jetzt missverstehen Sie mich absichtlich! Ihr Deutschen seid da unglaublich verbohrt. Natürlich sollen Frauen Karriere machen, wenn sie Lust dazu haben. Aber wir müssen aufhören, den Mann als Standard zu sehen. Männer setzen alles auf eine Karte, auf der steht: Karriere, Geld, Macht. Bei Frauen steht daneben noch einiges, was ihnen ähnlich wichtig ist.

Die Familie natürlich! Meinen Sie wirklich, Frauen erfüllt es, ihre Sprösslinge zum Klavierunterricht zu kutschieren?

Ich kenne Frauen, die Teilzeit arbeiten, um freitags selbst Klavier zu spielen, in Museen zu gehen, zu lesen. Die haben gar keine Kinder. Trotzdem wollen sie nicht 40 Stunden im Büro verbringen.

Widerlegen Sie selbst nicht Ihre Thesen? Sie machen Karriere als Bestseller-Autorin, arbeiten wie besessen, sind ständig unterwegs . . .

Nein, ich passe sogar gut zu meiner These. Ich war eine ehrgeizige Psychologie-Studentin, habe ein paar Jahre in einer Praxis gearbeitet, dann habe ich drei Kinder bekommen und die Arbeit stark reduziert, da die Kinder mich in Beschlag genommen haben. Jetzt, da sie groß sind, steige ich wieder ein.

Gender-Forscher argumentieren, mit passenden Rahmenbedingungen würden viele Frauen sich das mit dem Chefsessel überlegen.

Das stimmt. Mit Flexibilität und Arbeitszeitmodellen können Sie mehr Frauen für Führungsaufgaben begeistern. Aber Sie werden nie auf 50 Prozent kommen. Und die Frauen werden eher in kommunikativen Branchen aufsteigen als in der Metallindustrie.

Woher nehmen Sie das Wissen?

Studien haben gezeigt: Je fortgeschrittener die Emanzipation in einem Land ist, desto häufiger wählen Mädchen die klassischen Frauen-Fächer. Der Anteil weiblicher Physik-Studenten liegt in arabischen Staaten deutlich höher als in Westeuropa. Auch in Asien beweisen Frauen sich in Männer-Domänen. Bei uns dagegen machen sie, wozu sie Lust haben. Das ist eine Folge der Emanzipation, die so niemand erwartet hat!

Wenn die Chefetage weiterhin in Männerhand bleibt, warum sorgen Sie sich dann um die Jungen?

Wagemut und Kampfgeist verhelfen Männern zu spektakulären Erfolgen, aber auch zu Rekordzahlen bei Unfällen und Selbstmorden, bei Schulabbrechern und Arbeitslosen. Männer sind ganz oben und ganz unten, Frauen bewegen sich vorwiegend im Mittelfeld. Um die Ausreißer nach unten aber kümmert sich niemand. Für die interessiert sich niemand: Sie auch nicht, Sie fragen nur nach den Frauen.

Heute muss also den Jungen geholfen werden?

Ja, da muss etwas geschehen. Denn immer mehr einfache Jobs in der Industrie, die diese Männer erledigen, verschwinden. Das sind die Arbeitslosen von morgen, die Gewalttäter und Selbstmörder.

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Die Frauenversteherin LINK

Die Kanadieren Susan Pinker, 52, ist Entwicklungspsychologin, Zeitungskolumnistin und Buchautorin. 25 Jahre lang hat sie verhaltensauffällige Kinder behandelt. Eine Zeitlang hat sie zudem als Dozentin an der McGill-Universität in Montreal gelehrt. International bekannt wurde sie mit ihrem Bestseller „The sexual paradox“ („Begabte Mädchen, schwierige Jungs - der wahre Unterschied zwischen Männern und Frauen“), der an den Grundfesten der Frauenbewegung rüttelt. Denn Pinker ist überzeugt davon: Es gibt eine „weibliche Natur“ - und die ist verantwortlich dafür, dass weniger Frauen Karriere machen als Männer. Pinker lebt mit ihrem Mann und drei fast erwachsenen Kindern in Montreal.