Interview mit Ursula von der Leyen
Familienministerin Ursula von der Leyenicht mit Cicero über Kinder, Familie und den Unterschied zwischen Jungen und Mädchen.
Was ist anders geworden an der Familienpolitik, seit Sie im Kabinett sind?
Die Diskussion über das Elterngeld und den Ausbau der Kinderbetreuung hat in den Köpfen viel bewegt. Es wurde zum ersten Mal in aller Breite diskutiert, wie wir eigentlich mit Kindern in einer modernen Welt leben wollen. Und die Menschen sehen, dass wir nicht länger ideologische Gräben schaufeln, sondern die alltäglichen Hürden für junge Familien in den Blick nehmen und handeln. Mit der Einführung des Elterngeldes hat Familienpolitik eine neue Dynamik bekommen. Wir sehen allein an der Tatsache, dass seit 2007 wieder mehr Kinder geboren werden, dass sich etwas verändert hat. Die neuen Zahlen markieren allerdings noch keine Trendwende. Ich empfinde sie vielmehr als Vertrauensvorschuss für einen gesellschaftlichen Wandel, der sich abzeichnet. Wir müssen weiter hart daran arbeiten, dieses Vertrauen der jungen Menschen, die Beruf und Familienleben vereinbaren wollen, nicht zu enttäuschen.
Wie sieht die ideale Förderung von Kindern aus?
Manche sagen: Vor 50 Jahren hatten wir auch keine Kinderbetreuung und haben dennoch Kinder bekommen. Das stimmt. Aber was war damals anders? Damals hatten Kinder häufig viele Geschwister, die Großfamilie war eine Selbstverständlichkeit. Kinder brauchen andere Kinder für ihre Entwicklung. Und es gab andere Erwachsene in der Großfamilie, wie Großeltern, Onkel, Tanten, Vettern und Cousinen, die diese Kinder ins Leben mit begleitet haben. Der Alltag heutiger Familien sieht in der Regel ganz anders aus: Vater, Mutter, ein, zwei Kinder, Großeltern weit entfernt. Weil das so ist, brauchen wir Räume, wie Mehrgenerationenhäuser, Kindergärten oder Tagesmütternetze, die gut mit den Eltern zusammenarbeiten, wo Kinder mit anderen Kindern ihre kleine Welt entdecken können.
Sollen wir künftig eher die Familien durch ein höheres Kindergeld unterstützen oder die Betreuungseinrichtungen stärken?
Man braucht Beides. Es darf nicht mehr um die Frage gehen, Beruf oder Kinder. Das haben wir in unserem Land viel zu lange getan- und bezahlen es mit dem ganz bitteren und hohen Preis der Kinderlosigkeit. Die vergangene Zeit hatte zwei hässliche Begriffe geprägt, die das Dilemma deutlich machen. Es war das Ausspielen der Rabenmutter gegen das Heimchen am Herd. Andere Länder, die genau so modern sind wie wir und in denen deutlich mehr Kinder geboren werden, haben einen breiten gesellschaftlichen Konsens hergestellt. Dort fragt man nur: Was brauchen Eltern und Kinder, um auf eigenen Füßen stehen zu können und gut gerüstet den Weg ins Leben zu finden.
Gestatten sie mir eine Nachfrage: Was müssen wir denn tun, um Kinder optimal zu fördern? Wo muss angesetzt werden?
Wir brauchen drei Komponenten: Die gezielte finanzielle Förderung, darunter fällt das Elterngeld ebenso wie die gerade erkämpfte Kindergelderhöhung. Und es braucht genauso den Ausbau der Kinderbetreuung. 30 Prozent der jungen Eltern suchen einen Platz und landen nur auf ellenlangen Wartelisten. Das ist frustrierend. Und als Drittes brauchen Väter und Mütter gute Zeit für Arbeit, aber auch gute Zeit mit den Kindern. Dafür müssen wir familienbewusste Arbeitsstrukturen in den Unternehmen schaffen.
Das Elterngeld ermöglicht jetzt ja, dass sich Vater und Mutter für eine gewisse Zeit um ihr Kind kümmern können. Welchen Einfluss haben Vater und Mutter auf die persönliche Entwicklung ihrer Kinder?
Selbstverständlich brauchen Kinder ihren Vater und ihre Mutter von Anfang an. Und sie brauchen sie ganz präsent in ihrem Alltag. Kinderpsychologen, die die Entwicklung von Kindern mit nur einem Elternteil erforscht haben, zeigen, dass Rolle des Vaters und die Rolle der Mutter nicht untereinander austauschbar sind. Auch ich erlebe das tagtäglich mit unseren Kindern: Mein Mann und ich gehen zwar, jeder auf seine Art, anders mit den Kindern um, sind aber beide für sie unverzichtbar.
Sie haben ja selbst Buben und Mädchen. Wie gehen Sie als Eltern mit ihnen um?
Ich bin nicht so blauäugig anzunehmen, dass man da völlig neutral ist. Auch aus eigener Erfahrung weiß ich, dass die meisten Väter und Mütter unterschiedlich mit ihren Töchtern und Söhnen umgehen. Das ist auch in Ordnung. Die Interaktion zwischen einem Vater mit seiner Tochter ist sicherlich eine andere als zwischen einer Mutter mit ihrem Sohn. Entscheidend ist aber, jedes Kind unabhängig von seinem Geschlecht zu bestätigen, lieb zu haben und anzunehmen.
Welcher Ansatz einer gelungenen Förderung leitet sich daraus ab?
Jedes Kind ist einzigartig und hat besondere Fähigkeiten. Wir als Erwachsene müssen aufpassen, dass sie nicht verkümmern. Dass Mädchen und Jungen dann unterschiedliche Wege gehen, das ist klar. Heute zeigt sich, dass wir in den letzten 30, 40 Jahren bei den Mädchen, was Schule und Ausbildung angeht, unglaublich erfolgreich gewesen sind. Nun müssen wir uns inzwischen fragen: Warum profitieren die Jungs nicht im gleichen Maße vom der Bildungsaufwuchs.
Haben Sie darauf eine Antwort, warum das so ist?
In den wichtigen frühen Jahren fehlen den Jungen heute häufig männliche Vorbilder, an denen sie sich im Alltag ausrichten können. Bis vor kurzem war ja die gesellschaftlich vorgegebene Rolle des Mannes die des Ernährers, was zur Folge hatte, dass die Väter im Alltag der Kinder bis zur Pubertät fast nicht präsent waren. Väter auf Spielplätzen sind ein relativ neues Bild. Das spiegelt sich im Bildungsbereich: Bis heute gibt es sehr wenige Erzieher oder Grundschullehrer. Das hat sicherlich auch etwas mit Anerkennung und Gehaltsstrukturen zu tun, denn in weiterführenden Schulen gibt es mehr männliche Lehrer. Kleine Jungs brauchen genau wie kleine Mädchen Erwachsene, die sie im Alltag erleben und als Rollenvorbild akzeptieren. Das gilt gerade für Kinder mit Migrationshintergrund, Wer zuhause erlebt, dass sich Mutter und Schwester nicht ernst genommen werden, bekommt schnell auch ein Problem mit der Autorität der Lehrerin. Das sind Themen, der wir in Zukunft mehr Aufmerksamkeit schenken müssen
Wie war das, als Ihre Kinder in die Schule kamen?
Ich habe zweimal das große Glück gehabt, dass meine Kinder und insbesondere mein kleiner Sohn einen Grundschullehrer hatten. Irgendwas machten diese Grundschullehrer etwas anders mit den kleinen Rabauken. Damit will ich nicht für eine Schule oder einen Kindergarten ohne Frauen plädieren. Alle Mädchen und Jungs brauchen auch die weibliche Rolle. Und da man auch im späteren Leben immer Männer und Frauen trifft, braucht man sie eben beide von Anfang an.
Und was kann die Politik tun? Eine umgekehrte Quote schaffen: wir brauchen soundsoviel männliche Lehrkräfte in den Bildungseinrichtungen?
Quote nein! Wir brauchen keine von oben verordnete Veränderung sondern kluge Anreize und attraktive Rahmenbedingungen, die Männern Türen öffnet bei der Kindererziehung. Allein durch die Tatsache, dass die Vatermonate soviel Anklang bei den jungen Vätern finden, setzt die Macht des Faktischen ein. Gesellschaftlich, weil Männer sichtbarer werden auf den Spielplätzen, in den Krabbelkursen und weil Väter jetzt am Arbeitsplatz selbstbewusst nach Zeit mit ihrem Kind fragen. Der zweite Punkt: Der Ausbau der Betreuung auch was die qualität angeht, ist gekoppelt mit einer gesellschaftlichen Aufwertung des Erzieherberufes. Wenn sich das in der Bezahlung –niederschlägt, werden zunehmend auch Männer in diese Jobs gehen.
Sie sind ja selbst mit Brüdern aufgewachsen: Wurden sie in ihrem Frausein ernst genommen und akzeptiert? Oder war es einfach schwierig, weil soviele Jungs um sie rum waren? Ich habe zwei Phasen gehabt: ich hatte zwei ältere Brüder, dann eine kleinere Schwester, und nochmal zwei jüngere Brüder. Wir waren also zwei Jungs, zwei Mädchen, zwei Jungs. Meine kleine Schwester starb mit elf, als ich 13 war,. Und erst von da an war ich das einzige Mädchen. Aus der Zeit kann ich mich gut an zwei Reaktionen erinnern: Die eine war „O Gott, da wirst du ja verwöhnt, wenn du das einzige Mädchen bist“ und die andere Reaktion war „Ach Gott, du Ärmste, nur Jungs um Dich herum!“ Beides kam immer von außen. Ich selbst habe mich nie als jemand gefühlt, der eine Sonderstellung in der Familie hat.
Wie haben Ihre Eltern darauf reagiert?
Meine Eltern haben eine Sache großartig hinbekommen. Sie haben uns Kindern immer vermittelt: Egal was ihr erreichen wollt oder was ihr machen wollt im Leben, Bildung ist dafür das wichtigste! Die Schule hatte bei uns zuhause einen sehr großen Stellenwert. Diese hohen Erwartungen richteten sich an die Mädchen genauso wie an die Jungs.
Sie wollten ja durch die Neuakzentuierung der Familienpolitik für die Union neue Wählerschichten erschließen, vor allem im städtischen Raum. Wird diese Rechnung aufgehen im nächstes Jahr?
Ich bin sicher, dass viele junge Menschen verstanden haben, dass die CDU ihre Sorgen, Anliegen und Nöte versteht. Ich glaube die entscheidende Aufgabe von Politik ist, die Lebenswirklichkeit der Menschen wahrzunehmen. Jeder prüft an seinem Platz, was eigentlich die aktuellen Herausforderungen sind und wie Weichen neu gestellt werden müssen. Ich will eine Familienpolitik machen, die vor allem jungen Menschen in der modernen Welt ein Leben mit Kindern ermöglicht und die auseinanderdriftenden Generationen wieder stärker zusammenführt.
Stehen sie, sollte die Union 2009 stärkste Kraft werden, wieder als Ministerin zur Verfügung? Würden sie nochmal eine Runde wagen?
Ja natürlich! Wenn die Kanzlerin mir eine Amt anvertraut, auf jeden Fall.
Das Gespräch führte Alexander Görlach
„Jungs fehlen häufig männliche Vorbilder“
"Mehr Männer müssen Lehrer werden"
Von Regina Köhler
Mädchen sind in den vergangenen Jahrzehnten verstärkt gefördert worden. Jungen indes machen zunehmend Schwierigkeiten. Morgenpost Online sprach mit dem Schulpädagogen Ulf Preuss-Lausitz von der Technischen Universität über Ursachen und Lösungsansätze für dieses Phänomen.
Morgenpost Online: Herr Preuss-Lausitz, in letzter Zeit werden Forderungen von Experten immer lauter, sich in der Schule verstärkt um die Jungen zu kümmern. Warum?
Ulf Preuss-Lausitz: Jungen machen den größeren Teil der lernschwachen Schüler aus, sie dominieren die Schülerschaft an Haupt- und Sonderschulen - ihr Anteil beträgt bis 75 Prozent. Jungen verlassen öfter als Mädchen die Schule ohne Abschluss, sind sozial auffälliger, bleiben häufiger sitzen, neigen stärker zu Gewalt und werden häufiger als hyperaktiv eingestuft. Richtig große Sorgen machen uns rund 20 Prozent der Jungen, um die müssen wir uns dringend kümmern.
Morgenpost Online: Gelten diese Aussagen auch für Jungen am Gymnasium?
Preuss-Lausitz: Das gilt für Jungen aller Schulformen. In Berlin sind zum Beispiel unter den Abiturienten 55 Prozent Mädchen, aber nur 45 Prozent Jungen. Auch ist die Drop-out-Quote der Jungen höher als die der Mädchen. Das setzt sich bei den Studienabbrechern fort. Studien wie Pisa und Iglu haben diese Fakten erstmals öffentlich gemacht.
Morgenpost Online: Können Sie ein Beispiel nennen?
Preuss-Lausitz: Nehmen wir die Lesekompetenz, die ist bei Mädchen deutlich höher ausgebildet als bei Jungen. Hier könnte schon etwas geändert werden, wenn die Lesetexte jungengerechter wären. Wir brauchen Texte, in denen es auch um Technik, Fantasy und Science-Fiction geht, nicht nur um Tiere oder Familie.
Morgenpost Online: Wo liegen weitere Ursachen?
Preuss-Lausitz: Es spielt eine Rolle, dass Jungen vor allem in Kita und Grundschule größtenteils von Frauen betreut und unterrichtet werden. Wir müssen mehr junge Männer für diese Berufe motivieren. An den Grundschulen beträgt der Anteil der Lehrerinnen 85 Prozent. Das hat sich in den vergangenen 40 Jahren so entwickelt. Lehrerinnen haben oft ein emotionales Problem mit lauten, unruhigen Jungs und deren Macho-Gehabe. Es fällt ihnen schwer, klare Grenzen auszuhandeln. Mädchen werden oft besser bewertet, weil die soziale Leistung unbewusst mit einfließt.
Morgenpost Online: Was muss die Schule tun?
Preuss-Lausitz: Die Pädagogen müssen durch verstärkte Fortbildung für das Thema sensibilisiert werden. Jungenpädagogik ist an den Schulen aber bisher kein Thema.
Morgenpost Online: Wie sollte sich der Unterricht ändern?
Preuss-Lausitz: Motorische Elemente müssen regelmäßig in den Tagesablauf eingebaut werden. Jungs haben einen stärkeren Bewegungsdrang, den sie auch in der Schule ausleben wollen. Im Unterricht wie im Schulleben sollte mehr Expressivität zugelassen, Verantwortung und Fürsorge durch Jungen gefördert werden.
Morgenpost Online: Gibt es in Berlin derartige Ansätze?
Preuss-Lausitz: Bislang nur im Freizeitbereich. Hier werden an einigen Schulen Jungen-AGs angeboten, häufig von männlichen Sozialarbeitern. Rollenspiele und Körperarbeit sind Teil dieser Angebote. Wichtig in der Jungenarbeit ist auch, Grenzen zu setzen und gemeinsame Regeln einzufordern und aufzustellen.
Morgenpost Online: Sie haben sich kürzlich im Schulausschuss zur Jungenförderung geäußert. Was erwarten Sie vom Senat?
Preuss-Lausitz: Im Senat sollte eine dauerhafte Arbeitsgruppe zum Thema eingerichtet werden. Wir brauchen alle zwei Jahre einen Bericht zur Jungen- und Mädchenförderung. Der sollte neben statistischen Daten auflisten, welche Projekte es gibt und wie erfolgreich diese sind. Außerdem sollte jede Schule Jungen- wie Mädchenförderung in ihrem Programm verankern und sich fragen: Wie ist bei uns die Lage? Was tun wir? Welche Probleme gibt es?
Jungs sind die neuen Sorgenkinder in der Schule
[Berliner Morgenpost, Montag, 17. November 2008]
Von Florentine Anders
Galten in den 60er- und 70er-Jahren Mädchen als benachteiligt in der Schule, sind heute Jungs eher die Leistungsversager. Das Bildungssystem wird den Bedürfnissen der Jungen nicht gerecht, warnen Experten. Schulen wie die Thomas-Mann-Grundschule in Prenzlauer Berg suchen nach Lösungen.
Thomas Mann Grundschule: Maxim und Paul gehen regelmäßig in den Jungsklub
Freitag, sechste Stunde in der Thomas-Mann-Grundschule in Prenzlauer Berg: Die Viertklässler Maxim und Paul werden unruhig. Sie wollen sich bewegen - und genau das dürfen sie jetzt. Selbstverständlich ist das nicht. Das Bildungssystem wird den Bedürfnissen der Jungen nicht gerecht, warnen Experten. Auch die Ergebnisse des jüngsten Pisa-Tests, die am Dienstag veröffentlicht werden, werden mit großer Wahrscheinlichkeit erneut einen Leistungsunterschied zwischen Jungen und Mädchen dokumentieren. Die Jungen werden dabei nicht so gut wegkommen. "Frühere Pisa-Tests und Tests wie Iglu haben das bereits gezeigt", sagt Professor Ulf Preuss-Lausitz von der Technischen Universität. Der Erziehungswissenschaftler forscht seit Jahren zum Thema.
Galten in den 60er- und 70er-Jahren Mädchen als benachteiligt, so hat sich das längst umgekehrt. Heute sind es die Jungen, die häufiger zurückgestellt werden, häufiger sitzen bleiben oder gar die Schule abbrechen. Jungen werden bei gleicher Leistung negativer eingeschätzt als Mädchen, scheitern auch in der Oberschule und machen seltener Abitur. Jungen gehören eher zu den Leistungsversagern als Mädchen, hat auch Preuss-Lausitz feststellen müssen. Womit nicht alle gemeint sind, sondern ein Anteil von etwa 20 Prozent. Diese Minderheit aber bedarf dringend einer Förderung. Dafür muss sich auch das Programm an den Schulen einstellen.
Viele Elemente, die die Wissenschaftler fordern, werden an der Thomas-Mann-Grundschule bereits umgesetzt. In dieser letzten Stunde steht "Freiarbeit" auf dem Stundenplan von Paul und Maxim. Die Dritt- und Viertklässler der altersgemischten Lerngruppe können sich selbst aussuchen, woran sie arbeiten möchten. Sie dürfen aufstehen, sich in Gruppen zusammenfinden oder auch einfach allein sein, wenn sie möchten. Einige holen sich ein Rechenquiz aus dem Schrank, andere spielen ein Brettspiel mit englischen Vokabeln. Maxim und Paul ziehen sich in die Leseecke zurück, gemeinsam mit den anderen Jungen. Die Neunjährigen greifen nach den Lexika, der Fußballzeitschrift und den Comics. Im Flüsterton zeigen sie sich gegenseitig ihre Entdeckungen.
Fußballzeitschrift im Unterricht
Während Experten kritisieren, dass an vielen Grundschulen nur Bücher angeboten werden, die die Mädchenwelt ansprechen, ist hier so gut wie alles erlaubt. "Am beliebtesten sind die Fußballzeitschriften und das ,Guinnessbuch der Rekorde'", sagt die Schulleiterin Christa Lietzau. Für sie ist es nicht so wichtig, was die Jungs lesen, sondern dass sie lesen - "und zwar mit Spaß". Die Interessenswelt der Jungs soll nicht aus der Schule verbannt werden. Sogar eine Collage von Yu-Gi-Oh-Postern hängt an der Wand im Klassenzimmer. An vielen Grundschulen sind den Lehrern die japanischen Sammelkarten ein Dorn im Auge, hier werden sie sogar in den Unterricht mit einbezogen.
Auf den Tischen stehen kleine Lämpchen, die an einem selbst gebastelten Stromkreis hängen. Die Lampen haben die Kinder im Werkunterricht gebaut - an der Thomas-Mann-Grundschule ist das ein reguläres Unterrichtsfach bis zur vierten Jahrgangsstufe. Im Keller stehen Werkbänke mit Schraubstöcken, an denen die Kinder sägen und feilen können. "Das kommt natürlich auch den Mädchen zugute", sagt Christa Lietzau. Schließlich müsse jeder wissen, was eine Mutter mit der Schraube zu tun hat. Die Mädchen lieben den Stabilbaukasten - ebenso wie die Jungs begeistert Teppiche knüpfen. Da gebe es kaum Unterschiede, meint die Schulleiterin. Im Werkunterricht hätten gerade die unruhigen Kinder ihre großen Erfolge.
Nach dem Unterricht auf dem Hof werden die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen dafür umso deutlicher. Die kleinen Kerle kommen mit Vorliebe ohne Jacke auf den Hof gerannt, jedes überflüssige Kleidungsstück würde sie nur behindern. Auf dem kleinen Bolzplatz ist immer nur eine Lerngruppe zugelassen. Nebenan wälzen sich die übrigen Jungen im Sand, fallen übereinander, schubsen sich gegenseitig um.
"Mir werden diese Haufenbildungen immer ein Rätsel bleiben", sagt Christa Lietzau schmunzelnd. Aber sie weiß, dass die Jungs das wohl brauchen. Bei diesem Spiel geht es ganz offensichtlich nicht nur um den Bewegungsdrang, sondern auch ums Messen der Kräfte.
Auch deshalb gibt es seit diesem Schuljahr jeden Freitagnachmittag einen Jungsklub. Ein Mädchenklub existiert schon lange, aber für das Pendant fehlten bisher die geeigneten männlichen Pädagogen, die eben das Innenleben der Jungs nicht nur akzeptieren, sondern auch verstehen. In den vergangenen Jahren hatten ab und zu Väter ehrenamtlich Nachmittagsangebote für Jungs angeboten. "Das wurde von den Kindern dankbar angenommen, schließlich gab es bis auf den Hausmeister und den Sportlehrer sonst nur Frauen an der Schule", so die Schulleiterin. Und viele Kinder ihrer Schule würden in getrennten Elternhäusern aufwachsen und damit vorrangig bei der Mutter.
Seit diesem Schuljahr ist der Hort teilweise in freie Trägerschaft übergegangen. Der Vorteil: Die Schule konnte sich die Erzieher aussuchen. Jetzt gibt es gleich vier männliche Erzieher an der Schule. Angesichts der 47 Pädagogen insgesamt ist die Quote immer noch gering, aber die Effekte sind bereits deutlich spürbar.
Rangeln und Raufen erlaubt
Frank Witkowski und Martin Dittmar leiten den Jungsklub. An diesem Freitagnachmittag finden sich sechs Jungs in das offene Angebot ein. Auch Paul und Maxim, sie sind fast immer dabei. "Raufen und Rangeln" steht auf dem Programm. "Früher sind wir oft zu den Sportspielen gegangen", sagt Paul, aber da seien zu viele Erstklässler, auf die man Rücksicht nehmen muss. Hier haben die oberen und unteren Altersgruppen getrennte Zeiten. Die Jungs kommen in den mit Matten ausgelegten Tobe- und Kletterraum und machen sich erst mal den Oberkörper frei. Das sei nur im Jungsklub, möglich, meint Paul, da würden doch sonst die Mädchen alle losschreien. Dann geht es zur Sache. Die beiden Erzieher erklären die Regeln. Die Jungs stehen auf den Matten und sollen sich gegenseitig mit ausgestreckten Händen aus dem Gleichgewicht bringen.
"Und wenn ich dem Paul dabei aus Versehen mit der Faust schlage?", fragt Lukas (Name geändert) nach. "Dann wirst du aus Versehen Pause machen müssen", antwortet Frank Witkowski. Die Ansage ist klar, keine weiteren Fragen. Lukas gehört zu den sogenannten schwierigen Jungs an der Schule. Er ist sehr unruhig, benötigt viel Aufmerksamkeit und hat große Konzentrationsschwierigkeiten. Herr Witkowski ist froh, dass genau diese Jungs den Weg in den Klub finden. "Offenbar fühlen sie selbst genau, was ihnen fehlt", sagt er. Im Laufe der Stunde kommt Lukas immer wieder auf die beiden Erzieher zu. Er will am liebsten mit ihnen kämpfen, wie die meisten anderen auch. Die beiden Pädagogen stehen nicht am Rand, sondern machen mit. Rangeln mit den Jungs bis sie selbst völlig erschöpft sind. Obwohl es an diesem Tag nur sechs Kinder sind, müssen sie vollen Einsatz bringen. Natürlich verlieren die Kinder meist gegen die erwachsenen Männer, und trotzdem wollen sie es immer wieder versuchen. "Ich hab gemerkt, dass sich Jungen gern messen, aber nicht verlieren können", sagt Herr Witkowski. Das will er hier mit ihnen üben.
Die Jungs konnten sich selbst aussuchen, was sie alles in ihrem Klub machen wollen. Computer steht auch auf dem Plan. "Wenn wir unter uns sind, können wir schon mal Star Wars oder so was spielen - das würde ja Mädchen total langweilen", sagt Maxim.
Aber auch Kochen haben sich die Jungs gewünscht. Frank Witkowski freut sich, er ist ein begeisterter Hobbykoch und will den Jungs zeigen, dass die Küche bei Weitem nicht den Frauen vorbehalten ist.
Ministerin klagt über zu wenig Männer in der Schule
Berlin (AP) Familienministerin Ursula von der Leyen vermisst die Männer an den Grundschulen. «In den wichtigen frühen Jahren fehlen den Jungen heute häufig männliche Vorbilder, an denen sie sich im Alltag ausrichten können», sagte die CDU-Politikerin dem Magazin «Cicero» laut einer Vorabmeldung vom Mittwoch. Das gelte gerade für Kinder mit Migrationshintergrund. Bis heute gebe es sehr wenige Erzieher oder Grundschullehrer. «Das hat sicherlich auch etwas mit Anerkennung und Gehaltsstrukturen zu tun, denn in weiterführenden Schulen gibt es mehr männliche Lehrer», sagte die Ministerin. Diesem Thema müsse man in Zukunft mehr Aufmerksamkeit schenken.
Von der Leyen will mehr Männer als Grundschullehrer
[Line-1-Eins, 19.11.2008]
Die Bundesfamilienministerin hält männliche Vorbilder für wichtig.
Berlin (ddp). An Grundschulen gibt es nach Ansicht von Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) zu wenige Männer als Lehrer. »In den wichtigen frühen Jahren fehlen den Jungen heute häufig männliche Vorbilder, an denen sie sich im Alltag ausrichten können«, sagte die Ministerin dem Magazin »Cicero« laut Vorabbericht vom Mittwoch. Das gelte »gerade für Kinder mit Migrationshintergrund«.
Dass es nur sehr wenige Erzieher oder Grundschullehrer gibt, hat von der Leyen zufolge auch mit Anerkennung und Gehaltsstrukturen zu tun. In weiterführenden Schulen gebe es mehr männliche Lehrer. Diesem Thema müsse man »in Zukunft mehr Aufmerksamkeit schenken«.
(ddp)
Chancengerechtigkeit durch mehr männliche Erzieher
28.10.2008: Schwerin/MVregio Die Parlamentarische Staatssekretärin für Frauen und Gleichstellung, Dr. Margret Seemann, (46,SPD) nahm an der 18. Konferenz der Gleichstellungs- und FrauenministerInnen der Länder (18. GFMK)
Seemann: "Mit fast ausschließlich weiblichem Personal in den Kitas und Grundschulen ist es bei allen redlichen Bemühungen äußerst schwierig, männliche und weibliche Rollenklischees aufzubrechen und Diskriminierungen entgegenzuwirken." Seemann unterstützt daher den Leitantrag der 18. GFMK, der mehr Chancengerechtigkeit durch geschlechtersensible Erziehung, Bildung und Ausbildung fordert.
Mädchen erzielen sehr gute Lernerfolge. Die Jungen schneiden dagegen schlechter ab. Im Arbeitsleben kehre sich dieses Bild um. Hier haben dann die Männer den Erfolg und die Frauen das Nachsehen.
"Eine geschlechtersensible Erziehung muss deutlich machen, dass Mädchen und Jungen verschiedene Fähigkeiten haben und sich unterschiedlich verhalten. Sie beurteilen dadurch Dinge anders und gehen daher Aufgaben und Probleme auch unterschiedlich an. Dies hat jedoch nichts mit einem Besser oder Schlechter zu tun", führt Seemann aus. Sie sieht es für erforderlich an, dass Mädchen und Jungen bereits in den Kitas und Grundschulen weiblichen und männlichen Bezugpersonen bzw. Lehrkräften begegnen sollten.
Zudem sollte die geschlechtersensible Pädagogik in der Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte sowie der Erzieherinnen und Erzieher stärker verankert werden. "Durch eine geschlechtsspezifische Förderung der Stärken von Mädchen und Jungen kommen wir dem Ziel der Chancengerechtigkeit einen großen Schritt näher", so Seemann.
Die 18. GFMK sprach sich einstimmig für die Einrichtung einer gemeinsamen Arbeitsgruppe mit der Kultusministerkonferenz aus, die Leitlinien für mehr Chancengerechtigkeit durch geschlechtersensible Erziehung, Bildung und Ausbildung entwickelt.
MVregio LAndesdienst red/mv