Von Regina Köhler
Mädchen sind in den vergangenen Jahrzehnten verstärkt gefördert worden. Jungen indes machen zunehmend Schwierigkeiten. Morgenpost Online sprach mit dem Schulpädagogen Ulf Preuss-Lausitz von der Technischen Universität über Ursachen und Lösungsansätze für dieses Phänomen.
Morgenpost Online: Herr Preuss-Lausitz, in letzter Zeit werden Forderungen von Experten immer lauter, sich in der Schule verstärkt um die Jungen zu kümmern. Warum?
Ulf Preuss-Lausitz: Jungen machen den größeren Teil der lernschwachen Schüler aus, sie dominieren die Schülerschaft an Haupt- und Sonderschulen - ihr Anteil beträgt bis 75 Prozent. Jungen verlassen öfter als Mädchen die Schule ohne Abschluss, sind sozial auffälliger, bleiben häufiger sitzen, neigen stärker zu Gewalt und werden häufiger als hyperaktiv eingestuft. Richtig große Sorgen machen uns rund 20 Prozent der Jungen, um die müssen wir uns dringend kümmern.
Morgenpost Online: Gelten diese Aussagen auch für Jungen am Gymnasium?
Preuss-Lausitz: Das gilt für Jungen aller Schulformen. In Berlin sind zum Beispiel unter den Abiturienten 55 Prozent Mädchen, aber nur 45 Prozent Jungen. Auch ist die Drop-out-Quote der Jungen höher als die der Mädchen. Das setzt sich bei den Studienabbrechern fort. Studien wie Pisa und Iglu haben diese Fakten erstmals öffentlich gemacht.
Morgenpost Online: Können Sie ein Beispiel nennen?
Preuss-Lausitz: Nehmen wir die Lesekompetenz, die ist bei Mädchen deutlich höher ausgebildet als bei Jungen. Hier könnte schon etwas geändert werden, wenn die Lesetexte jungengerechter wären. Wir brauchen Texte, in denen es auch um Technik, Fantasy und Science-Fiction geht, nicht nur um Tiere oder Familie.
Morgenpost Online: Wo liegen weitere Ursachen?
Preuss-Lausitz: Es spielt eine Rolle, dass Jungen vor allem in Kita und Grundschule größtenteils von Frauen betreut und unterrichtet werden. Wir müssen mehr junge Männer für diese Berufe motivieren. An den Grundschulen beträgt der Anteil der Lehrerinnen 85 Prozent. Das hat sich in den vergangenen 40 Jahren so entwickelt. Lehrerinnen haben oft ein emotionales Problem mit lauten, unruhigen Jungs und deren Macho-Gehabe. Es fällt ihnen schwer, klare Grenzen auszuhandeln. Mädchen werden oft besser bewertet, weil die soziale Leistung unbewusst mit einfließt.
Morgenpost Online: Was muss die Schule tun?
Preuss-Lausitz: Die Pädagogen müssen durch verstärkte Fortbildung für das Thema sensibilisiert werden. Jungenpädagogik ist an den Schulen aber bisher kein Thema.
Morgenpost Online: Wie sollte sich der Unterricht ändern?
Preuss-Lausitz: Motorische Elemente müssen regelmäßig in den Tagesablauf eingebaut werden. Jungs haben einen stärkeren Bewegungsdrang, den sie auch in der Schule ausleben wollen. Im Unterricht wie im Schulleben sollte mehr Expressivität zugelassen, Verantwortung und Fürsorge durch Jungen gefördert werden.
Morgenpost Online: Gibt es in Berlin derartige Ansätze?
Preuss-Lausitz: Bislang nur im Freizeitbereich. Hier werden an einigen Schulen Jungen-AGs angeboten, häufig von männlichen Sozialarbeitern. Rollenspiele und Körperarbeit sind Teil dieser Angebote. Wichtig in der Jungenarbeit ist auch, Grenzen zu setzen und gemeinsame Regeln einzufordern und aufzustellen.
Morgenpost Online: Sie haben sich kürzlich im Schulausschuss zur Jungenförderung geäußert. Was erwarten Sie vom Senat?
Preuss-Lausitz: Im Senat sollte eine dauerhafte Arbeitsgruppe zum Thema eingerichtet werden. Wir brauchen alle zwei Jahre einen Bericht zur Jungen- und Mädchenförderung. Der sollte neben statistischen Daten auflisten, welche Projekte es gibt und wie erfolgreich diese sind. Außerdem sollte jede Schule Jungen- wie Mädchenförderung in ihrem Programm verankern und sich fragen: Wie ist bei uns die Lage? Was tun wir? Welche Probleme gibt es?