„Jungs fehlen häufig männliche Vorbilder“

[Cicero, 11-2008]


Interview mit Ursula von der Leyen

Familienministerin Ursula von der Leyenicht mit Cicero über Kinder, Familie und den Unterschied zwischen Jungen und Mädchen.

Was ist anders geworden an der Familienpolitik, seit Sie im Kabinett sind?
Die Diskussion über das Elterngeld und den Ausbau der Kinderbetreuung hat in den Köpfen viel bewegt. Es wurde zum ersten Mal in aller Breite diskutiert, wie wir eigentlich mit Kindern in einer modernen Welt leben wollen. Und die Menschen sehen, dass wir nicht länger ideologische Gräben schaufeln, sondern die alltäglichen Hürden für junge Familien in den Blick nehmen und
handeln. Mit der Einführung des Elterngeldes hat Familienpolitik eine neue Dynamik bekommen. Wir sehen allein an der Tatsache, dass seit 2007 wieder mehr Kinder geboren werden, dass sich etwas verändert hat. Die neuen Zahlen markieren allerdings noch keine Trendwende. Ich empfinde sie vielmehr als Vertrauensvorschuss für einen gesellschaftlichen Wandel, der sich abzeichnet. Wir müssen weiter hart daran arbeiten, dieses Vertrauen der jungen Menschen, die Beruf und Familienleben vereinbaren wollen, nicht zu enttäuschen.

Wie sieht die ideale Förderung von Kindern aus?
Manche sagen: Vor 50 Jahren hatten wir auch keine Kinderbetreuung und haben dennoch Kinder bekommen. Das stimmt. Aber was war damals anders? Damals hatten Kinder häufig viele Geschwister, die Großfamilie war eine Selbstverständlichkeit. Kinder brauchen andere Kinder für ihre Entwicklung. Und es gab andere Erwachsene in der Großfamilie, wie Großeltern, Onkel, Tanten, Vettern und Cousinen, die diese Kinder ins Leben mit begleitet haben. Der Alltag heutiger Familien sieht in der Regel ganz anders aus: Vater, Mutter, ein, zwei Kinder, Großeltern weit entfernt. Weil das so ist, brauchen wir Räume, wie Mehrgenerationenhäuser, Kindergärten oder Tagesmütternetze, die gut mit den Eltern zusammenarbeiten, wo Kinder mit anderen Kindern ihre kleine Welt entdecken können.

Sollen wir künftig eher die Familien durch ein höheres Kindergeld unterstützen oder die Betreuungseinrichtungen stärken?
Man braucht Beides. Es darf nicht mehr um die Frage gehen, Beruf oder Kinder. Das haben wir in unserem Land viel zu lange getan- und bezahlen es mit dem ganz bitteren und hohen Preis der Kinderlosigkeit. Die vergangene Zeit hatte zwei hässliche Begriffe geprägt, die das Dilemma deutlich machen. Es war das Ausspielen der Rabenmutter gegen das Heimchen am Herd. Andere Länder, die genau so modern sind wie wir und in denen deutlich mehr Kinder geboren werden, haben einen breiten gesellschaftlichen Konsens hergestellt. Dort fragt man nur: Was brauchen Eltern und Kinder, um auf eigenen Füßen stehen zu können und gut gerüstet den Weg ins Leben zu finden.

Gestatten sie mir eine Nachfrage: Was müssen wir denn tun, um Kinder optimal zu fördern? Wo muss angesetzt werden?
Wir brauchen drei Komponenten: Die gezielte finanzielle Förderung, darunter fällt das Elterngeld ebenso wie die gerade erkämpfte Kindergelderhöhung. Und es braucht genauso den Ausbau der Kinderbetreuung. 30 Prozent der jungen Eltern suchen einen Platz und landen nur auf ellenlangen Wartelisten. Das ist frustrierend. Und als Drittes brauchen Väter und Mütter gute Zeit für Arbeit, aber auch gute Zeit mit den Kindern. Dafür müssen wir familienbewusste Arbeitsstrukturen in den Unternehmen schaffen.

Das Elterngeld ermöglicht jetzt ja, dass sich Vater und Mutter für eine gewisse Zeit um ihr Kind kümmern können. Welchen Einfluss haben Vater und Mutter auf die persönliche Entwicklung ihrer Kinder?
Selbstverständlich brauchen Kinder ihren Vater und ihre Mutter von Anfang an. Und sie brauchen sie ganz präsent in ihrem Alltag. Kinderpsychologen, die die Entwicklung von Kindern mit nur einem Elternteil erforscht haben, zeigen, dass Rolle des Vaters und die Rolle der Mutter nicht untereinander austauschbar sind. Auch ich erlebe das tagtäglich mit unseren Kindern: Mein Mann und ich gehen zwar, jeder auf seine Art, anders mit den Kindern um, sind aber beide für sie unverzichtbar.

Sie haben ja selbst Buben und Mädchen. Wie gehen Sie als Eltern mit ihnen um?
Ich bin nicht so blauäugig anzunehmen, dass man da völlig neutral ist. Auch aus eigener Erfahrung weiß ich, dass die meisten Väter und Mütter unterschiedlich mit ihren Töchtern und Söhnen umgehen. Das ist auch in Ordnung. Die Interaktion zwischen einem Vater mit seiner Tochter ist sicherlich eine andere als zwischen einer Mutter mit ihrem Sohn. Entscheidend ist aber, jedes Kind unabhängig von seinem Geschlecht zu bestätigen, lieb zu haben und anzunehmen.

Welcher Ansatz einer gelungenen Förderung leitet sich daraus ab?
Jedes Kind ist einzigartig und hat besondere Fähigkeiten. Wir als Erwachsene müssen aufpassen, dass sie nicht verkümmern. Dass Mädchen und Jungen dann unterschiedliche Wege gehen, das ist klar. Heute zeigt sich, dass wir in den letzten 30, 40 Jahren bei den Mädchen, was Schule und Ausbildung angeht, unglaublich erfolgreich gewesen sind. Nun müssen wir uns inzwischen fragen: Warum profitieren die Jungs nicht im gleichen Maße vom der Bildungsaufwuchs.

Haben Sie darauf eine Antwort, warum das so ist?
In den wichtigen frühen Jahren fehlen den Jungen heute häufig männliche Vorbilder, an denen sie sich im Alltag ausrichten können. Bis vor kurzem war ja die gesellschaftlich vorgegebene Rolle des Mannes die des Ernährers, was zur Folge hatte, dass die Väter im Alltag der Kinder bis zur Pubertät fast nicht präsent waren. Väter auf Spielplätzen sind ein relativ neues Bild. Das spiegelt sich im Bildungsbereich: Bis heute gibt es sehr wenige Erzieher oder Grundschullehrer. Das hat sicherlich auch etwas mit Anerkennung und Gehaltsstrukturen zu tun, denn in weiterführenden Schulen gibt es mehr männliche Lehrer. Kleine Jungs brauchen genau wie kleine Mädchen Erwachsene, die sie im Alltag erleben und als Rollenvorbild akzeptieren. Das gilt gerade für Kinder mit Migrationshintergrund, Wer zuhause erlebt, dass sich Mutter und Schwester nicht ernst genommen werden, bekommt schnell auch ein Problem mit der Autorität der Lehrerin. Das sind Themen, der wir in Zukunft mehr Aufmerksamkeit schenken müssen

Wie war das, als Ihre Kinder in die Schule kamen?
Ich habe zweimal das große Glück gehabt, dass meine Kinder und insbesondere mein kleiner Sohn einen Grundschullehrer hatten. Irgendwas machten diese Grundschullehrer etwas anders mit den kleinen Rabauken. Damit will ich nicht für eine Schule oder einen Kindergarten ohne Frauen plädieren. Alle Mädchen und Jungs brauchen auch die weibliche Rolle. Und da man auch im späteren Leben immer Männer und Frauen trifft, braucht man sie eben beide von Anfang an.

Und was kann die Politik tun? Eine umgekehrte Quote schaffen: wir brauchen soundsoviel männliche Lehrkräfte in den Bildungseinrichtungen?
Quote nein! Wir brauchen keine von oben verordnete Veränderung sondern kluge Anreize und attraktive Rahmenbedingungen, die Männern Türen öffnet bei der Kindererziehung. Allein durch die Tatsache, dass die Vatermonate soviel Anklang bei den jungen Vätern finden, setzt die Macht des Faktischen ein. Gesellschaftlich, weil Männer sichtbarer werden auf den Spielplätzen, in den Krabbelkursen und weil Väter jetzt am Arbeitsplatz selbstbewusst nach Zeit mit ihrem Kind fragen. Der zweite Punkt: Der Ausbau der Betreuung auch was die qualität angeht, ist gekoppelt mit einer gesellschaftlichen Aufwertung des Erzieherberufes. Wenn sich das in der Bezahlung –niederschlägt, werden zunehmend auch Männer in diese Jobs gehen.

Sie sind ja selbst mit Brüdern aufgewachsen: Wurden sie in ihrem Frausein ernst genommen und akzeptiert? Oder war es einfach schwierig, weil soviele Jungs um sie rum waren? Ich habe zwei Phasen gehabt: ich hatte zwei ältere Brüder, dann eine kleinere Schwester, und nochmal zwei jüngere Brüder. Wir waren also zwei Jungs, zwei Mädchen, zwei Jungs. Meine kleine Schwester starb mit elf, als ich 13 war,. Und erst von da an war ich das einzige Mädchen. Aus der Zeit kann ich mich gut an zwei Reaktionen erinnern: Die eine war „O Gott, da wirst du ja verwöhnt, wenn du das einzige Mädchen bist“ und die andere Reaktion war „Ach Gott, du Ärmste, nur Jungs um Dich herum!“ Beides kam immer von außen. Ich selbst habe mich nie als jemand gefühlt, der eine Sonderstellung in der Familie hat.

Wie haben Ihre Eltern darauf reagiert?
Meine Eltern haben eine Sache großartig hinbekommen. Sie haben uns Kindern immer vermittelt: Egal was ihr erreichen wollt oder was ihr machen wollt im Leben, Bildung ist dafür das wichtigste! Die Schule hatte bei uns zuhause einen sehr großen Stellenwert. Diese hohen Erwartungen richteten sich an die Mädchen genauso wie an die Jungs.

Sie wollten ja durch die Neuakzentuierung der Familienpolitik für die Union neue Wählerschichten erschließen, vor allem im städtischen Raum. Wird diese Rechnung aufgehen im nächstes Jahr?
Ich bin sicher, dass viele junge Menschen verstanden haben, dass die CDU ihre Sorgen, Anliegen und Nöte versteht. Ich glaube die entscheidende Aufgabe von Politik ist, die Lebenswirklichkeit der Menschen wahrzunehmen. Jeder prüft an seinem Platz, was eigentlich die aktuellen Herausforderungen sind und wie Weichen neu gestellt werden müssen. Ich will eine Familienpolitik machen, die vor allem jungen Menschen in der modernen Welt ein Leben mit Kindern ermöglicht und die auseinanderdriftenden Generationen wieder stärker zusammenführt.

Stehen sie, sollte die Union 2009 stärkste Kraft werden, wieder als Ministerin zur Verfügung? Würden sie nochmal eine Runde wagen?
Ja natürlich! Wenn die Kanzlerin mir eine Amt anvertraut, auf jeden Fall.

Das Gespräch führte Alexander Görlach