Jungs sind die neuen Sorgenkinder in der Schule


[Berliner Morgenpost, Montag, 17. November 2008]


Von Florentine Anders

Galten in den 60er- und 70er-Jahren Mädchen als benachteiligt in der Schule, sind heute Jungs eher die Leistungsversager. Das Bildungssystem wird den Bedürfnissen der Jungen nicht gerecht, warnen Experten. Schulen wie die Thomas-Mann-Grundschule in Prenzlauer Berg suchen nach Lösungen.

Thomas Mann Grundschule: Maxim und Paul gehen regelmäßig in den Jungsklub

Freitag, sechste Stunde in der Thomas-Mann-Grundschule in Prenzlauer Berg: Die Viertklässler Maxim und Paul werden unruhig. Sie wollen sich bewegen - und genau das dürfen sie jetzt. Selbstverständlich ist das nicht. Das Bildungssystem wird den Bedürfnissen der Jungen nicht gerecht, warnen Experten. Auch die Ergebnisse des jüngsten Pisa-Tests, die am Dienstag veröffentlicht werden, werden mit großer Wahrscheinlichkeit erneut einen Leistungsunterschied zwischen Jungen und Mädchen dokumentieren. Die Jungen werden dabei nicht so gut wegkommen. "Frühere Pisa-Tests und Tests wie Iglu haben das bereits gezeigt", sagt Professor Ulf Preuss-Lausitz von der Technischen Universität. Der Erziehungswissenschaftler forscht seit Jahren zum Thema.

Galten in den 60er- und 70er-Jahren Mädchen als benachteiligt, so hat sich das längst umgekehrt. Heute sind es die Jungen, die häufiger zurückgestellt werden, häufiger sitzen bleiben oder gar die Schule abbrechen. Jungen werden bei gleicher Leistung negativer eingeschätzt als Mädchen, scheitern auch in der Oberschule und machen seltener Abitur. Jungen gehören eher zu den Leistungsversagern als Mädchen, hat auch Preuss-Lausitz feststellen müssen. Womit nicht alle gemeint sind, sondern ein Anteil von etwa 20 Prozent. Diese Minderheit aber bedarf dringend einer Förderung. Dafür muss sich auch das Programm an den Schulen einstellen.

Viele Elemente, die die Wissenschaftler fordern, werden an der Thomas-Mann-Grundschule bereits umgesetzt. In dieser letzten Stunde steht "Freiarbeit" auf dem Stundenplan von Paul und Maxim. Die Dritt- und Viertklässler der altersgemischten Lerngruppe können sich selbst aussuchen, woran sie arbeiten möchten. Sie dürfen aufstehen, sich in Gruppen zusammenfinden oder auch einfach allein sein, wenn sie möchten. Einige holen sich ein Rechenquiz aus dem Schrank, andere spielen ein Brettspiel mit englischen Vokabeln. Maxim und Paul ziehen sich in die Leseecke zurück, gemeinsam mit den anderen Jungen. Die Neunjährigen greifen nach den Lexika, der Fußballzeitschrift und den Comics. Im Flüsterton zeigen sie sich gegenseitig ihre Entdeckungen.

Fußballzeitschrift im Unterricht

Während Experten kritisieren, dass an vielen Grundschulen nur Bücher angeboten werden, die die Mädchenwelt ansprechen, ist hier so gut wie alles erlaubt. "Am beliebtesten sind die Fußballzeitschriften und das ,Guinnessbuch der Rekorde'", sagt die Schulleiterin Christa Lietzau. Für sie ist es nicht so wichtig, was die Jungs lesen, sondern dass sie lesen - "und zwar mit Spaß". Die Interessenswelt der Jungs soll nicht aus der Schule verbannt werden. Sogar eine Collage von Yu-Gi-Oh-Postern hängt an der Wand im Klassenzimmer. An vielen Grundschulen sind den Lehrern die japanischen Sammelkarten ein Dorn im Auge, hier werden sie sogar in den Unterricht mit einbezogen.

Auf den Tischen stehen kleine Lämpchen, die an einem selbst gebastelten Stromkreis hängen. Die Lampen haben die Kinder im Werkunterricht gebaut - an der Thomas-Mann-Grundschule ist das ein reguläres Unterrichtsfach bis zur vierten Jahrgangsstufe. Im Keller stehen Werkbänke mit Schraubstöcken, an denen die Kinder sägen und feilen können. "Das kommt natürlich auch den Mädchen zugute", sagt Christa Lietzau. Schließlich müsse jeder wissen, was eine Mutter mit der Schraube zu tun hat. Die Mädchen lieben den Stabilbaukasten - ebenso wie die Jungs begeistert Teppiche knüpfen. Da gebe es kaum Unterschiede, meint die Schulleiterin. Im Werkunterricht hätten gerade die unruhigen Kinder ihre großen Erfolge.

Nach dem Unterricht auf dem Hof werden die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen dafür umso deutlicher. Die kleinen Kerle kommen mit Vorliebe ohne Jacke auf den Hof gerannt, jedes überflüssige Kleidungsstück würde sie nur behindern. Auf dem kleinen Bolzplatz ist immer nur eine Lerngruppe zugelassen. Nebenan wälzen sich die übrigen Jungen im Sand, fallen übereinander, schubsen sich gegenseitig um.

"Mir werden diese Haufenbildungen immer ein Rätsel bleiben", sagt Christa Lietzau schmunzelnd. Aber sie weiß, dass die Jungs das wohl brauchen. Bei diesem Spiel geht es ganz offensichtlich nicht nur um den Bewegungsdrang, sondern auch ums Messen der Kräfte.

Auch deshalb gibt es seit diesem Schuljahr jeden Freitagnachmittag einen Jungsklub. Ein Mädchenklub existiert schon lange, aber für das Pendant fehlten bisher die geeigneten männlichen Pädagogen, die eben das Innenleben der Jungs nicht nur akzeptieren, sondern auch verstehen. In den vergangenen Jahren hatten ab und zu Väter ehrenamtlich Nachmittagsangebote für Jungs angeboten. "Das wurde von den Kindern dankbar angenommen, schließlich gab es bis auf den Hausmeister und den Sportlehrer sonst nur Frauen an der Schule", so die Schulleiterin. Und viele Kinder ihrer Schule würden in getrennten Elternhäusern aufwachsen und damit vorrangig bei der Mutter.

Seit diesem Schuljahr ist der Hort teilweise in freie Trägerschaft übergegangen. Der Vorteil: Die Schule konnte sich die Erzieher aussuchen. Jetzt gibt es gleich vier männliche Erzieher an der Schule. Angesichts der 47 Pädagogen insgesamt ist die Quote immer noch gering, aber die Effekte sind bereits deutlich spürbar.

Rangeln und Raufen erlaubt

Frank Witkowski und Martin Dittmar leiten den Jungsklub. An diesem Freitagnachmittag finden sich sechs Jungs in das offene Angebot ein. Auch Paul und Maxim, sie sind fast immer dabei. "Raufen und Rangeln" steht auf dem Programm. "Früher sind wir oft zu den Sportspielen gegangen", sagt Paul, aber da seien zu viele Erstklässler, auf die man Rücksicht nehmen muss. Hier haben die oberen und unteren Altersgruppen getrennte Zeiten. Die Jungs kommen in den mit Matten ausgelegten Tobe- und Kletterraum und machen sich erst mal den Oberkörper frei. Das sei nur im Jungsklub, möglich, meint Paul, da würden doch sonst die Mädchen alle losschreien. Dann geht es zur Sache. Die beiden Erzieher erklären die Regeln. Die Jungs stehen auf den Matten und sollen sich gegenseitig mit ausgestreckten Händen aus dem Gleichgewicht bringen.

"Und wenn ich dem Paul dabei aus Versehen mit der Faust schlage?", fragt Lukas (Name geändert) nach. "Dann wirst du aus Versehen Pause machen müssen", antwortet Frank Witkowski. Die Ansage ist klar, keine weiteren Fragen. Lukas gehört zu den sogenannten schwierigen Jungs an der Schule. Er ist sehr unruhig, benötigt viel Aufmerksamkeit und hat große Konzentrationsschwierigkeiten. Herr Witkowski ist froh, dass genau diese Jungs den Weg in den Klub finden. "Offenbar fühlen sie selbst genau, was ihnen fehlt", sagt er. Im Laufe der Stunde kommt Lukas immer wieder auf die beiden Erzieher zu. Er will am liebsten mit ihnen kämpfen, wie die meisten anderen auch. Die beiden Pädagogen stehen nicht am Rand, sondern machen mit. Rangeln mit den Jungs bis sie selbst völlig erschöpft sind. Obwohl es an diesem Tag nur sechs Kinder sind, müssen sie vollen Einsatz bringen. Natürlich verlieren die Kinder meist gegen die erwachsenen Männer, und trotzdem wollen sie es immer wieder versuchen. "Ich hab gemerkt, dass sich Jungen gern messen, aber nicht verlieren können", sagt Herr Witkowski. Das will er hier mit ihnen üben.

Die Jungs konnten sich selbst aussuchen, was sie alles in ihrem Klub machen wollen. Computer steht auch auf dem Plan. "Wenn wir unter uns sind, können wir schon mal Star Wars oder so was spielen - das würde ja Mädchen total langweilen", sagt Maxim.

Aber auch Kochen haben sich die Jungs gewünscht. Frank Witkowski freut sich, er ist ein begeisterter Hobbykoch und will den Jungs zeigen, dass die Küche bei Weitem nicht den Frauen vorbehalten ist.