Warum Jungen in der Schule Problemfälle werden


[Welt-Online, 7. März 2009]

Von Miriam Hollstein

Experten sind sich einig: Jungen werden im deutschen Bildungssystem benachteiligt. Die Folge sind schlechtere Noten, höhere Sitzenbleiberquoten, häufigere Leseschwächen als bei Mädchen. Oft wird die große Zahl von Lehrerinnen dafür verantwortlich gemacht. Aber Forscher sehen die Ursachen differenzierter.


Erste Zweifel am deutschen Bildungssystem kamen der Berlinerin Sabine Schubert (Name geändert), als ihr Sohn Maximilian vor sechs Jahren eingeschult wurde. Zwar schaffte der Sechsjährige die Einschulungstests ohne Probleme, doch mit dem Stillsitzen haperte es. Kein Problem, versicherte die Schule der besorgten Mutter. Nach einem halben Jahr kam Maximilian jedoch mit einer Schulanweisung nach Hause: Weil er unerlaubt an einem Turngerät herumgeklettert war, durfte er eine Woche nicht am Sportunterricht teilnehmen. Als er wegen Störung des Unterrichts auch öfter in einen „Sozialraum“ abgeschoben wurde, nahm Schubert ihn von der Schule.


An der zweiten Schule wurde es nicht besser. „Im Fach Deutsch mussten die Kinder Bienengeschichten lesen, im Kunstunterricht Schmetterlinge malen und beim Sport Schleiertänze aufführen“, erzählt Schubert. Weil Maximilian und andere Jungen ihren Bewegungsdrang im Unterricht abbauten, seien sie dafür ständig vor der Tür gelandet.


Erst an der dritten Schule lösten sich Maximilians Probleme in Luft auf. „Seine Klassenlehrerin hatte selbst zwei Söhne, kannte sich mit Jungen einfach aus“, sagt Schubert. Für die 42-Jährige ist nach der leidvollen Erfahrung klar: „Jungen haben es in der Schule viel schwerer als Mädchen – man lässt sie einfach nicht mehr Jungen sein.“


Jungen sind die Verlierer unseres Bildungssystems. Zu diesem Schluss kommt auch der Germanist Arne Hoffmann in seinem neuen Buch „Rettet unsere Söhne“. Schon im Kindergarten kämen die Bedürfnisse von Jungen zu kurz. Auch in der Grundschule würden Mädchen vom überwiegend weiblichen Erziehungspersonal ständig bevorzugt. Von einer „Feminisierung der Schule“ spricht Hoffmann. Sie sei Folge „eines überbordenden Feminismus“, der in seinem Ziel, die Rechte der Frauen zu stärken, die Anliegen der Männer in gefährlichem Maße ignoriert habe. Werde diese Entwicklung nicht gestoppt, wachse eine Generation von männlichen Bildungsversagern heran.


Hoffmanns These ist nicht ganz neu. Vor knapp zwanzig Jahre erschien das Buch „Kleine Helden in Not“, von Dieter Schnack und Rainer Neutzling, das erstmals darauf hinwies, dass im Zuge der Frauenförderung die Jungen aus dem Blick geraten waren. Inzwischen ist eine Reihe von Büchern erschienen(„Die Jungenkatastrophe“, „Jungen in der Krise“ und „Kleine Jungs – große Not“), die alle zu demselben Schluss kommen: Jungen werden in unserem System benachteiligt.


Wer zweimal sitzen bleibt, ist oft ein Junge

Die Vertreter dieser Thesen verweisen dabei auf Fakten:


Je niedriger qualifizierend die Schulform ist, desto höher ist der Jungenanteil. Jungen verlassen häufiger als Mädchen die Schule ohne Abschluss. Mädchen erreichen häufiger die Hochschulreife als Jungen.


Jungen bleiben häufiger sitzen. Laut Pisa-Studie müssen bis zur 9. Klasse 35 Prozent der Jungen, aber nur 26 Prozent der Mädchen eine Klasse wiederholen. Wer zweimal sitzen bleibt, ist oft ein Junge.


Der Anteil an Lehrerinnen liegt in der Grundschule bei fast 90 Prozent; im Kindergarten sind sogar 98 Prozent des Erziehungspersonals Frauen. Nur an Gymnasien finden sich im Schnitt fast ebenso viele Lehrer wie Lehrerinnen.


Studien zeigen, dass Jungen selbst bei gleichen Leistungen im Schnitt eine Note schlechter bewertet werden als Mädchen.
Jungen leiden zwei- bis dreimal so häufig unter Lese- und Schreibschwäche wie Mädchen.

Auch Pädagogen aus der Praxis sehen die Entwicklung mit Sorge. „Viele Jungen werden in Kindergarten und Grundschule oft nicht optimal gefördert, weil Erzieherinnen und Lehrerinnen eher auf Verhaltensmuster von Mädchen eingestellt sind“, sagt Frauke Hanebeck, Lehrerin und Unterstufenleiterin an einem Kölner Gymnasium und selbst Mutter von zwei Söhnen. Kommen die Jungen dann zu ihr ans Gymnasium, „atmen die richtig auf, weil sie plötzlich von Männern betreut und sich verstanden fühlen“, hat Hanebeck beobachtet. Zwar gebe es Fortbildungsangebote für Lehrer, was geschlechterspezifische Pädagogik betrifft. Doch die seien allesamt freiwillig.

"Frauen können Jungen nicht zu Männern machen“


Von einer „heimlichen Diskriminierung“ spricht der renommierte Männerforscher Walter Hollstein („Was vom Manne übrig blieb“). Von einseitigen Schuldzuweisungen hält er freilich nichts. Vielmehr sei es ganz natürlich, dass Frauen sich auch im Umgang mit Jungen vor allem an ihren weiblichen Handlungsmustern orientierten. „Das wird zu wenig reflektiert“, glaubt Hollstein. Der amerikanische Dichter Robert Bly hat das Dilemma mit den Worten auf den Punkt gebracht: „Frauen können Jungen auf die Welt bringen, aber sie können sie nicht zu Männern machen.“


Widerstand gegen solche Thesen gibt es vor allem von feministischer Seite. Männern, die auf die Entwicklung aufmerksam machen, wird unterstellt, sie würden um die Macht des Patriarchats fürchten. Der Hamburger Gesamtschullehrer Frank Beuster wurde in Briefen und Internetblogs als „Neandertaler“ beschimpft, weil er in seinem Buch „Die Jungenkatastrophe“ die Auffassung vertritt, dass Jungen anders als Mädchen sind. „Damit schaden sich die Frauen letztlich selbst“, warnt Beuster. „Denn wenn wir das Problem verdrängen, wird eine Generation von Männern heranwachsen, die weder zu Vätern noch zu Ehepartnern taugt.“


In der Pflicht sehen Experten wie Beuster oder Walter Hollstein aber in erster Linie die Männer. Sie hätten zu passiv auf die Auflösung traditioneller Rollenbilder reagiert. Dabei geht es den Männerforschern nicht um eine Rückkehr zu alten Mustern. Aber während sich für Mädchen – nicht zuletzt aufgrund gezielter staatlicher Förderung – längst neue Frauenbilder etabliert haben, fehlt es für Jungen an klaren Identifikationsangeboten. „Männer sollten stärker über ihre Rolle nachdenken“, fordert Hollstein. Auch müssten Erzieherberufe gesellschaftlich aufgewertet und damit auch für Männer wieder attraktiver gemacht werden.


"Boys' day für typische "Frauenberufe"


Der Pädagoge Beuster hat an seiner Schule „Jungen-Nachmittage“ eingeführt. Einmal im Monat unternimmt er, unterstützt von Vätern und Männern aus dem Schulumfeld, mit Fünft- bis Zehntklässlern typische Jungenaktivitäten: Computer werden auseinandergebaut, Fußball gespielt oder Waffen aus Holz geschnitzt. Mädchen bleiben außen vor: „Die Jungen sollen spüren, dass es nur um sie geht.“


Gemeinsam mit der Hamburger Regierung arbeitet Beuster zudem daran, „Jungenbeauftragte“ an den Schulen einzuführen. Diese sollen auch darauf achten, ob der Lehrplan „jungentauglich“ ist.


In München gibt es bereits seit 2003 „Jungenbeauftragte“ an den Schulen. Auch sonst gibt es Anzeichen, dass die Benachteiligung von Jungen als gesellschaftliches Problem erkannt wird. In immer mehr Städten gibt es inzwischen einen „Boys' day“, der spiegelbildlich zum „Girls' day“ Jungen für typische „Frauenberufe“ im Erziehungs- und Pflegesektor heranführen soll. Aber auch eine wachsende Zahl von Frauen sieht das Thema nicht länger als Waffe des Geschlechterkampfs. Dies zeigt ein Beispiel aus Hamburg: Dort war an einer Grundschule nur weibliches Personal tätig. Als die Direktorin vor anderthalb Jahren in den Ruhestand ging, beschlossen die Lehrerinnen dies zu ändern. Sie wählten einen Mann zum Nachfolger. Einstimmig.