(4) Schule und Lernen - Jungen lernen anders



[RP-online, 07.05.2009]

Bei Jungen wird häufiger Legasthenie und ADHS diagnostiziert als bei Mädchen. Die Quote der Schulabbrecher ist höher, weit mehr Jungen als Mädchen besuchen Förderschulen. Sind Jungen die Verlierer im Bildungssystem?

Momentaufnahmen:

Morgenkreis, erste Klasse. Es dauert eine ganze Weile, bis jedes Kind seinen Platz gefunden hat. Die Jungen rangeln um die Plätze, rollen umher, schubsen, schreien, nur langsam legt sich der Lärm. Die Kinder erzählen reihum die Erlebnisse vom Wochenende. Fabian kann nicht warten, bis er an der Reihe ist, und ruft häufiger dazwischen. Nach fünf Minuten werden vor allem die Jungen unruhig, rutschen auf ihren Plätzen herum, der Erste muss zur Toilette.

Regenpause, erste Klasse. Sechs Jungen sitzen auf dem Boden und bauen mit Lego. Außer einigen Streitigkeiten um bestimmte Bauelemente wird konzentriert gearbeitet.

Deutsch, erste Klasse. Lukas soll einen Satz von der Tafel abschreiben. Er bemüht sich sichtlich, hat aber große Schwierigkeiten, die Liniatur einzuhalten. Seine Buchstaben wirken ungelenk und ausladend. Er radiert mehrmals. Das Ergebnis stellt ihn und die Lehrerin nicht zufrieden. Frust.

Montagsgeschichten, vierte Klasse. Christian ist nach fünf Minuten fertig und präsentiert einen Bericht, der aus zwei Sätzen besteht, deren Buchstaben man nur mühsam entziffern kann. Nach einem tadelnden Einwand der Lehrerin schreibt er widerwillig weitere Sätze und fügt eine Strichmännchen-Zeichnung hinzu.

Spielpause auf dem Hof. Mit dem Pausenzeichen entlädt sich der aufgestaute Bewegungsdrang beim Hinausstürmen und Drängeln. Ruppig wird um die besten Plätze an der Tischtennisplatte gestritten. Mehrere Jungen kämpfen miteinander, was von der Pausenaufsicht sofort unterbunden wird.

Sachunterricht, vierte Klasse, Thema Strom. Sezer fährt routiniert den Computer hoch, findet die angegebene Internetseite unter den Favoriten und beginnt mit der Arbeit. Alexander vertieft sich in ein Sachbuch und erklärt später, wie ein Wasserkraftwerk funktioniert. Philipp, Marvin, Tim und Sebastian sitzen auf dem Boden vor der Tafel und bauen aus dem bereitgestellten Material eine Parallelschaltung.

Diese Beispiele zeigen deutlich, dass Jungen anders lernen als Mädchen. Jungen sind bei Schuleintritt nachgewiesenermaßen genau so intelligent, haben aber Defizite in Sprachleistung, Feinmotorik und sozialer Kompetenz. Ihre Stärken sind Grobmotorik, Lernen durch Handeln (Trial and Error), raumbezogene Fähigkeiten.

Wie reagiert Schule auf diese körperbetonte, expressive Wesensart?

Da Kernkompetenzen wie Teamfähigkeit, Kommunikationstalent und Empathie gefragt sind, haben die Mädchen eindeutig die Nase vorn. Sie sind williger, sich anzupassen, können länger still sitzen, stören weniger den Unterricht, streiten eher verbal, sind sprachgewandter und schreiben schöner.

Ordentlich geführte Hefte sind bei den meisten Jungen ein Dauerstressthema. Sie lesen weniger, was möglicherweise an der Auswahl des Lesestoffes liegt. Jede harmlose Rangelei, in der Rangordnung geklärt werden soll, steht unter Gewaltverdacht und wird unterbunden. Jungen werden bei gleicher Leistung schlechter bewertet. Sie werden schneller pathologisiert.

Was muss sich ändern?

- Gender-Aspekte müssen in der Ausbildung der Lehrer- und ErzieherInnen eine größere Rolle spielen.
- Um der Lese-Unlust entgegenzuwirken, ist es sinnvoll, sachorientierte oder jungenspezifische Texte in den Unterricht zu integrieren.
- Eine gute Möglichkeit, Spannungen abzubauen, sind ritualisiertes Kämpfen oder Tobespiele.
- Da sich Jungen aus Ermangelung professioneller Vorbilder in der Schule oft an Stereotypen aus den Medien orientieren, muss ein reales Männerbild vermittelt werden.
- Visuell dominierende Medien, wie der Computer, müssen stärker in den Unterricht einbezogen werden, um den Neigungen der Jungen entgegenzukommen.
- Jungen lernen über Erleben und Bewegung, Versuch und Irrtum, deswegen müssen handlungsorientierter Unterricht sowie der Aspekt
„Bewegte Schule“ noch mehr in den Mittelpunkt rücken.
- Es müssen viel mehr männliche Kollegen im Elementar- und Primarbereich arbeiten.

Ausbildung entscheidet über Zukunft. Bereits in Kindergarten und Grundschule werden die Weichen für späteren Erfolg oder Misserfolg auf dem weiteren Bildungsweg gestellt. Umso wichtiger ist frühzeitige Prävention.