Ohne Jungen lernen Mädchen in der Schule entspannter


[Handelsblatt, I-2009]

Wirtschaft, Politik und Wissenschaft streiten über getrennten Unterricht

Wenn die Pause an der Frankfurter Kerschensteinerschule vorbei ist, gehen Mädchen und Jungen eigene Wege. Die Schüler der neunten und zehnten Klasse pauken getrennt für ihre Haupt- und Realschulabschlüsse. Um die Leistung in beiden Gruppen deutlich zu verbessern, hatte sich das Kollegium vor drei Jahren zu diesem Modellversuch entschlossen.


"Das Lernklima ist leistungsfördernder, weil beide Gruppen nicht mehr so viel Energie darauf verwenden müssen, sich abzugrenzen", lautet eine erste Bilanz von Schulleiterin Sabine Bartsch. Die Jungs seien wesentlich motivierter, die Mädchen entspannter. "Bei den Schülerinnen erhoffen wir uns darüber hinaus eine Stärkung des Selbstwertgefühls", sagt Bartsch. Die Suche nach solchen Konzepten ist aktueller denn je.


Erst kürzlich warb Bundesbildungsministerin Annette Schavan wieder für einen getrennten Unterricht von Jungen und Mädchen. "In einzelnen Fächern und bestimmten Altersstufen kann getrennter Unterricht durchaus sinnvoll sein", sagte Schavan. "Wir haben die Erfahrung gemacht, dass im Bereich der Naturwissenschaften oder der Sprachen es n
icht immer gelingt, Jungen und Mädchen in gleicher Weise anzusprechen."


Ganz so pauschal wollen dagegen weder Wirtschaftsvertreter noch Wissenschaftler diese These stehen lassen. "Jungen und Mädchen müssen differenziert unterrichtet werden, dazu müssen sie aber nicht unbedingt getrennt werden", sagt Astrid Kaiser, Pädagogikprofessorin an der Universität Oldenburg. Ein strikt monoedukativer Unterricht verstärke die Differenz zwischen Jungen und Mädchen und führe dazu, das sich geschlechterspezifische Rollenmuster verbreiten und verfestigen.


"Kinder und Jugendliche müssen die eigenen Grenzen kennenlernen und sich mit dem anderen Geschlecht auseinandersetzen", meint auch Berit Heintz, bildungspolitische Sprecherin des Deutschen Industrie- und Handelskammertages. Es bringe nichts, Jungen und Mädchen in Schutzräumen zu unterrichten - die gebe es in der späteren Arbeitswelt auch nicht.


Die Diskussion über getrennten Unterricht ist nicht neu. Bereits in den 90er-Jahren wurde die Koedukation auf den Prüfstand gestellt. In wissenschaftlich begleiteten Modellversuchen wurden Kinder und Jugendliche stundenweise getrennt unterrichtet. In Kiel etwa durften Jungen und Mädchen jeweils für sich Physik büffeln. In Oldenburg standen an Grundschulen einmal pro Woche Jungen- und Mädchenstunden auf dem Stundenplan. Inhalte waren vor allem soziales Lernen und geschlechterspezifische Alltagsprobleme.


"Es hat sich gezeigt, dass eine Trennung sinnvoll ist, wenn es um die Identitätsfindung beider Gruppen geht", sagt Anne Jenter, Leiterin des Arbeitsbereichs Frauenpolitik im Lehrerverband GEW. Sind Jungen und Mädchen unter sich, könne über stereotypes Argumentieren und Verhalten leichter reflektiert werden. Daher sei mehr Raum, eigene individuelle Neigungen unabhängig vom tradierten Rollenverständnis zu erkennen und zu fördern. Sind diese Voraussetzungen aber geschaffen, ist eine weitere Trennung eher von Nachteil, ist Professorin Kaiser überzeugt: "Beide Geschlechter müssen im Alltag miteinander klarkommen und daher lernen, mit den Unterschieden umzugehen."
Wichtig sei jedoch, dass Lehrer auch im gemeinsamen Unterricht auf die unterschiedlichen lernpsychologischen Voraussetzungen und Arbeitsweisen von Jungen und Mädchen eingehen und entsprechende Lernangebote machen. Der Unterricht werde automatisch besser und steigere die Lernmotivation, sagt die Professorin.


Zudem erhöht ein geschlechtersensibler Unterricht die Berufschancen, sagt GEW-Expertin Jenter: "Wenn im Klassenzimmer Rollenbilder infrage gestellt werden, ist es für Mädchen leichter, den Zugang zu klassischen Männerberufen zu finden und umgekehrt." Das wiederum käme auch Politikern und Arbeitgebern entgegen. In Zeiten des Fachkräftemangels wollen sie verstärkt Mädchen - etwa über Aktionen wie den Girls Day - für technische und techniknahe Berufe begeistern.


MELANIE RÜBARTSCH

Boy Problems


Peg Tyre is a staff writer for Newsweek and the mother of two school-age boys. In 2006, she wrote a cover story for Newsweek with the headline “The Boy Crisis,” which profiled a group of boys—all struggling readers—at an elementary school in Colorado. She found that while most people were still focused on the challenges of girls, as she had been for many years, boys were falling far behind in literacy, classroom achievement, and college enrollment, among others areas. The story became a topic of heated debate, met with accolades from concerned mothers of sons and criticism from feminist academics.

Tyre has since expanded her look at the issue in a recently published book, The Trouble With Boys: A Surprising Report Card on Our Sons, Their Problems at School, and What Parents and Educators Must Do. The book, based on interviews with hundreds of boys and their families, as well as gender-gap experts, details the problems boys are facing in school and argues for a new, boy-focused “gender revolution.”

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Die unterschwellige Benachteiligung von Jungen

[Volksstimme, 30.12.2008]

Von Philipp Hoffmann

Erziehung ist Frauensache, lautet eine (nicht nur) in Deutschland verbreitete Ansicht. Darum bleibt sie auch weitgehend den Frauen überlassen, ob im Elternhaus, dem Kindergarten oder der Grundschule. Jungen mit alleinerziehenden Müttern begegnen im Extremfall erstmals in der weiterführenden Schule regelmäßig Männern.

Der Mangel an männlichen Bezugspersonen muss sich zwar nicht zwangsläufig negativ auswirken. Allerdings legt eine ganze Reihe statistischer Werte die Vermutung nahe, dass Jungen im deutschen Bildungssystem zu kurz kommen: Mehr Jungen als Mädchen landen auf Förderschulen, weniger Jungen schaffen es auf ein Gymnasium und auf eine Hochschule. Jungen bleiben häufger sitzen und häufger ohne Abschluss. Auch außerhalb der Schule führen sie einschlägige Statistiken an, zum Beispiel die der Arbeitslosen unter 25 Jahren oder die der jugendlichen Straftäter.

Seit auch noch Schulstudien wie IGLU und PISA teilweise deutliche Leistungsunterschiede zwischen männlichen und weiblichen Schülern ausmachten, wird vielfach von "Jungen als Bildungsverlierern" gesprochen. Diesem Thema widmete sich nun auch Jürgen Budde vom Zentrum für Schul- und Bildungsforschung der Universität Halle im Rahmen einer Vortragsreihe zu Geschlechterfragen in der Schule. Budde forscht seit Jahren über Jungen und Männlichkeit und hat darüber seine Doktorarbeit geschrieben.

Wie der Wissenschaftler unter anderem bei eigenen Studien feststellte, ist die Benachteiligung von Jungen oft unterschwellig. Budde berichtete von einer Situation in einer österreichischen Schule, die sich eigentlich bewusst mit Geschlechterfragen auseinandersetzt. Eine Lehrerin fragte Fünftklässler nach ihren Vorsätzen für das neue Jahr. Vorhaben der Mädchen wie " putzen helfen " lobte sie ausdrücklich, während sie Wünsche der Jungen wie " mehr Fußball spielen " unkommentiert ließ oder ihren Sinn in Frage stellte.

Budde interpretiert das so: " Bei Jungen wird eher störendes Verhalten erwartet als bei Mädchen. Beiträge der Jungen werden daher eher als störend ausgelegt. " Das Gesamtbild von Jungen sei durch das Verhalten einiger weniger geprägt. Demgegenüber irritierten zurückhaltende, leise Jungen die Lehrer: " Sie werden leicht übersehen. " Der Bildungsforscher spricht sich für mehr Rücksicht auf spezifsches Rollen- und Lernverhalten von Jungen aus. Beispielsweise sollten typische Lernorte der Jungen wie Computer stärker anerkannt werden. Auch die Didaktik in Fächern, in denen Jungen traditionell Probleme haben, etwa den Sprachen, müsse jungengerecht umgestellt werden. So könnten beim Lesen – in IGLU und PISA als Defizitbereich der Jungen identifziert – Texte stärker auf männliche Interessen abgestellt werden, etwa Abenteuergeschichten.

Angesichts typischer "Geschlechterterritorien" in Schulen sprechen sich immer mehr Fachleute für zeitweilig getrennten Unterricht von Jungen und Mädchen aus. Etwa in den Naturwissenschaften könne so besser auf die unterschiedlichen Lernstrategien eingegangen werden. Ob es auch einen direkten Zusammenhang zwischen dem Mangel an männlichen Erziehern und Grundschullehrern und dem Bildungserfolg von Jungen gibt, ist umstritten. Außer Frage steht, dass Jungen sich durch männliche Präsenz zu anderen Aktivitäten anregen lassen – sie toben sich gern einfach mal richtig aus.