Beschluss des Parteirates

[Pressrelations, 21.01.2008]

Chancen durch Bildung - Perspektiven statt Ausgrenzung

Die aktuelle Debatte um Jugendgewalt zeigt einmal mehr, wie wichtig es ist, früh zu handeln, um gewalttätiges Verhalten zu verhindern. Da soziale Schwierigkeiten und Perspektivlosigkeit die Hauptgründe für Jugendgewalt sind, muss hier angesetzt werden. Gewaltprävention heißt also insbesondere, jungen Menschen früh eine Chance zu geben - eine Chance auf Bildung und Teilhabe.

In Deutschland hängt Bildung immer noch viel zu stark von der sozialen und ethnischen Herkunft ab. Diesen Zusammenhang müssen wir aufbrechen. Die Zahl der Bücher im Regal der Eltern darf nicht länger den Bildungserfolg bestimmen. Unter Bildung verstehen Bündnis 90/Die Grünen mehr als reine Wissensvermittlung und gute PISA-Ergebnisse. Vielmehr hat Bildung vor allem mit sozialem Lernen und Persönlichkeitsentwicklung zu tun. Bildung ist für uns GRÜNE unauflöslich mit der Anstrengung, der Kreativität und der Neugierde des Individuums verbunden, sich in die Welt hineinzufinden, ihre Traditionen zu ergründen und die eigenen Potenziale zu entwickeln. Bildung ist ein Prozess, in dem die Welt aktiv und verantwortungsvoll mitgestaltet wird.

Jungen Menschen durch Bildung eine Perspektive geben, heißt für Bündnis 90/Die Grünen:

Früher anfangen

Kinder müssen früh gefördert werden. Nicht jedem Kind wird zu Hause vorgelesen, nicht jedes wird in seiner Entwicklung optimal gefördert. Daher ist es neben dem Ausbau der Kinderbetreuungsplätze von größter Bedeutung, die Qualität der frühkindlichen Förderung zu steigern. Bündnis 90/Die Grünen stehen für einen Rechtsanspruch auf frühkindliche Bildung und Betreuung ab dem 1. Lebensjahr.Wir Grüne fordern Exzellenz auch in der Kita. Das bedeutet, Erzieherinnen und Erzieher noch besser auszubilden, damit sie Kinder individuell nach ihren Potenzialen und Fähigkeiten fördern können. Dazu gehört auch, die Erzieherausbildung mittelfristig auf Hochschulniveau anzuheben. Die Sprache ist der Schlüssel, um die Welt zu verstehen, deshalb brauchen Kinder mit Sprachproblemen frühzeitige Unterstützung. Außerdem fordern wir, Kitas zu Familienzentren auszubauen, in denen Eltern Beratung und Unterstützung erhalten können - am besten schon während der Schwangerschaft.

Kein Kind zurücklassen

Jedes Kind muss mitgenommen, individuell gefördert und zu einem Abschluss geführt werden. Ein Schulsystem, das Kinder mit zehn Jahren auf „niedrige“ und „höhere“ Schulformen aufteilt und etwa 10 Prozent der Jugendlichen ohne Abschluss entlässt, fördert Minderwertigkeitsgefühle, Frust und somit letztlich auch Gewalt. Wir wollen die Beschämung durch Auslese und das frühe Verteilen von Lebenschancen nicht mehr hinnehmen. Kinder sollen länger gemeinsam und voneinander lernen. Eine neue Lernkultur, die auf jedes Kind besonders eingeht, stärkt sowohl die Leistungsstarken als auch die Schwächsten. Das Sitzenbleiben wollen wir abschaffen.. Dazu gehört auch, Kinder mit Handicaps nicht länger auf Förderschulen abzuschieben.

Eltern ins Boot holen

Eltern, ErzieherInnen und LehrerInnen teilen Verantwortung für die Entwicklung der Kinder und müssen eng und vertrauensvoll zusammenarbeiten. In Bildungsdebatten werden die Eltern allerdings als wichtigste Erziehungspersonen mitunter vergessen. Dabei ist es zentral für den Bildungserfolg von Kindern, deren Eltern mit einzubeziehen. Zur Stärkung der Elternarbeit gehören Erziehungsvereinbarungen, Information und Aufklärung über Bildungsgänge und -angebote, aber auch Weiterbildung für Eltern wie Sprachkurse oder Beratung in Erziehungsfragen. Der Kontakt zu Eltern mit Migrationshintergrund muss verbessert werden - aus kulturellen und sprachlichen Gründen bleiben sie in der Beziehung Eltern-Schule allzu häufig außen vor. Die Migrantenverbände und -organisationen sind ebenfalls aufgefordert, Aufklärungsarbeit zu leisten und zwischen Schule und Familien zu vermitteln. Letztlich ist es Aufgabe aller Eltern, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Häufiges Schuleschwänzen ist ein Alarmsignal. Den Ursachen muss auf den Grund gegangen und pädagogisch begegnet werden. Notfalls muss die Schulpflicht mit Nachdruck durchgesetzt werden.

Gemeinsam mit der Türkischen Gemeinde in Deutschland starten wir eine Kampagne für eine gewaltfreie Erziehung, die in türkischer und deutscher Sprache für eine Umsetzung des Gewaltschutzgesetzes werben wird.

Die Mischung macht’s

Warum sollten an Schulen eigentlich nur Lehrerinnen und Lehrer mit Kindern arbeiten? Und warum kann die Schule nicht selbst entscheiden, ob sie eine Psychologin, einen Tischlermeister, einen Sozialpädagogen oder eine Theaterregisseurin braucht? Wir fordern, dass Schulen ein eigenes Budget bekommen und selbst entscheiden dürfen, wen sie einstellen. Denn auf steigende gesellschaftliche Anforderungen in punkto Bildung, Erziehung und Gewaltprävention können Schulen am besten mit einem auf sie zugeschnittenen Personalmix reagieren. Darüber hinaus muss auch die Lehrerausbildung dringend reformiert werden, damit individuelle Förderung und interkulturelle Kompetenz keine leeren Floskeln bleiben. Außerdem fordern wir mehr Personal mit Migrationshintergrund in Bildungseinrichtungen.

Ganztagsschulen bieten Zeit für mehr - Angebote von früh bis spät

Gute Bildungsangebote sinnvoll über den Tag verteilt können Bildungsdefizite abbauen und den starken Zusammenhang von sozialer Herkunft und Schulerfolg durchbrechen. Insbesondere Kinder mit Migrationshintergrund, leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler, aber auch besonders Begabte profitieren davon. Wir fordern daher, den begonnenen Ausbau der Ganztagsschulen mit Schwung fortzusetzen. 2009 läuft das von rot-grün begonnene Ganztagschulprogramm aus. Wir fordern die Länder auf diese Programm fortzusetzen. Ganztagsschule heißt dabei nicht, den Unterricht einfach in den Nachmittag zu verlängern, sondern der Schule einen neuen Rhythmus zu geben. Der 45-Minuten-Takt wird abgeschafft, die pädagogischen Fachkräfte sind den ganzen Tag anwesend und arbeiten im Team zusammen. Es gibt Hausaufgabenbetreuung, Förderangebote und fächerübergreifendes Lernen. Außerdem können Schülerinnen und Schüler unabhängig von ihrer sozialen Herkunft an Projekten aus Musik, Sport, Handwerk, Kunst usw. teilnehmen.

Vernetzt betreuen

Schwächen im Bildungssystem werden häufig sichtbar, wenn es um die Kooperation verschiedener Akteure geht. Mangelnde Zusammenarbeit kann Chancen vereiteln oder dazu führen, dass Probleme nicht früh genug erkannt werden. In dreifacher Hinsicht muss daher die Kooperation gestärkt werden: Erstens müssen Bildungseinrichtungen untereinander besser zusammenarbeiten, insbesondere beim Übergang von der Kita in die Grundschule oder bei Schulwechseln. Zweitens sind enge Netzwerke von Schule, Jugendamt, Sozialbehörden, Polizei und Justiz nötig, um bei Problemfällen adäquat und zeitnah handeln zu können. Verschiebebahnhöfe darf es hier nicht geben. Drittens sind Kitas und Schulen aufgerufen, sich in ihren Stadtteil hinein zu öffnen und Jugendarbeit, Vereine, Musik- und Kunstschulen, weitere Bildungsträger, Senioren, Handwerk usw. einzubeziehen. Beide Seiten müssen hier aufeinander zugehen und die Ganztagsschule als Chance für ein engeres Zusammenwirken zum Wohle der Kinder und Jugendlichen begreifen.

Mehr Männer in Kitas und Grundschulen

Besonderes Augenmerk muss auf männliche Bildungsverlierer gerichtet werden. Jugendgewalt ist überwiegend männlich - sowohl was die Täter als auch was die Opfer angeht. Viele Jungen erleben zuerst in ihrer Familie Gewalt, positive männliche Vorbilder fehlen. In Kita und Grundschule treffen sie fast ausschließlich auf weibliche Pädagogen und können auch hier nicht von positiven männlichen Identifikationsfiguren lernen. Wir brauchen deshalb mehr Männer in Kitas und Grundschulen und eine stärkere Rollenreflektion aller Erziehungskräfte in den Einrichtungen.


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