Bedingt integrationsfähig


[30.01.2009]

Ein gutes Bildungssystem und Hilfen für Eltern sind die Voraussetzung erfolgreicher Migrationsbiografien


Von Jürgen Amendt

Eine neue Studie zur Lebenssituation von Einwanderern in Deutschland hat Anfang der Woche die Debatte über die Integrationspolitik wieder aufleben lassen. Während einige Kommentatoren den mangelnden Integrationswillen gerade der türkischstämmigen Migranten beklagten, wiesen Migrantenvertreter und selbst Politiker der Union auf Defizite im Bildungsbereich hin.

Der Vorsitzende des Deutsch-Türkischen Forums der CDU in Nordrhein-Westfalen, Bülent Arslan, fand deutliche Worte zur jüngsten Migrationsstudie. Bis Ende der 1990er Jahre sei die deutsche Politik beim Thema Integration mehr oder weniger untätig gewesen, sagte der
Politiker der Tageszeitung »Die Welt«. Dabei sei doch klar gewesen, dass gerade in der türkischen Gemeinde in Deutschland die Zahl derer, die mit niedrigstem Bildungsstand eingewandert seien, recht hoch sei. Statt als Ärzte, Rechtsanwälte oder Facharbeiter standen die meisten hinterm Fließband oder haben sich ihre Brötchen mit dem eigenen Gemüseladen verdient. Ihre Kinder tun es ihnen oftmals gleich. Dies aber nicht nur deshalb, weil ihnen positive Vorbilder im engeren sozialen Umfeld fehlen, sondern weil sie als Hilfsarbeiter mehr Geld in der Tasche haben als als Lehrlinge oder Bafög-Empfänger. Im Vergleich zu deutschen Schulabgängern verdienen die Kinder der Eingewanderten zunächst pro Jahr im Schnitt 2100 Euro mehr, hat die Migrationsforscherin Heike Diefenbach nachgerechnet. Kurzfristig lohnt sich für die Jungtürken also ein höherer Bildungsabschluss nicht.

Hilfen für Familien statt Zwang und Strafe

Ülker Radzwill von der Berliner SPD hält daher nichts von populistischen Forderungen nach mehr Härte gegenüber Migranteneltern, die sich nicht oder nur kaum um schulische Belange ihrer Kinder kümmern. Die Schulen müssten mehr Kontakte zu den Eltern knüpfen und sie ins schulische Leben einbinden, forderte die in der Türkei geborene Politikerin, die für ihre Partei im Berliner Abgeordnetenhaus sitzt. »Die meisten Eltern der Migrantenkinder sind doch durch dasselbe Schulsystem gegangen – in dem sie versagt und zu dem sie kein Vertrauen haben.« Von ihnen könne man nicht automatisch erwarten, dass sie zu Elternabenden kämen oder auf andere Weise am Schulleben ihrer Kinder teilnehmen. »Da hilft kein Druck, da hilft nur mehr Familienhilfe.«
»Wir Lehrer brauchen in der Tat mehr Unterstützung«, meint auch Michaela Ghazi von der Johannes-Lindhorst-Schule in Berlin-Reinickendorf: Schulsozialarbeiter, aber auch »kulturelle und sprachliche Dolmetscher« für den Kontakt zu den Eltern seien notwendig, um etwas gegen Segregationstendenzen vor allem innerhalb der türkischen Community zu unternehmen.


An der Heinrich-Zille-Grundschule im Berliner Stadtteil Kreuzberg wird seit Jahren vorgemacht, wie Integrationsarbeit funktionieren kann. Ein Instrument ist das sogenannte Elterncafé. Hier organisieren die örtliche Erziehungsberatungsstelle und der »Arbeitskreis Neue Erziehung« Workshops zu Erziehungs- und Bildungsfragen. Das Angebot sei eine gute Möglichkeit, um der Entstehung von Parallelgesellschaften entgegenzuwirken, meint Schulleiterin Inge Hirschmann. Rund 50 Prozent beträgt der Anteil der Einwandererkinder an der Schule, die überwiegende Mehrheit davon stammt aus türkischen Familien. Da die Schule auf reformpädagogische Konzepte setzt, hat sie aber keine Probleme mit der Abwanderung von Schülern aus bildungsnahen Familien, sie wird mittlerweile sogar gezielt von diesen für ihre Kinder ausgewählt.

Die Bedeutung einer guten Elternarbeit an den Schulen für die Integration von Migranten betont auch Altun Icöz. Im Auftrag des Berliner Jugendhilfeträgers Jugendwohnen im Kiez ist sie als Schulsozialarbeiterin im Stadtteil Neukölln tätig und arbeitet als sogenannte Interkulturelle Moderatorin u.a. an der Rütli-Oberschule und der benachbarten Heinrich-Heine-Oberschule. Mehr als 80 Prozent der Schüler an den beiden Schulen haben einen sogenannten Migrationshintergrund. Doch während die Heinrich-Heine-Schule als Realschule mit dem mittleren Schulabschluss ein lohnenswertes Ziel bietet, heißt die Perspektive nach der Rütli-Schule oftmals: Keine Lehrstelle, Warteschleifen in der beruflichen Bildung, schließlich Arbeitslosigkeit.

Altun Icöz kam vor rund zwei Jahren an die Rütli-Schule, nachdem das Lehrerkollegium dort in einem Brandbrief auf die miserablen Zustände an seiner Schule aufmerksam gemacht hatte. Icöz hat in dieser Zeit eine interessante Beobachtung gemacht: Das Engagement der Eltern für die Schulkarriere ihrer Kinder hängt vom Schultyp ab. »Gehen die Kinder auf die Realschule, steigt das Interesse der Eltern, gehen die Kinder auf die Hauptschule, lässt das elterliche Engagement nach.« An der Hauptschule aber finden sich mittlerweile die meisten jungen Deutschtürken in der Hauptstadt wieder.


Zu wenig positive männliche Vorbilder

Es sei allerdings nicht so, dass die Eltern der Jugendlichen grundsätzlich kein Interesse an der Schulbildung ihrer Kinder hätten, widerspricht Altun Icöz einem weit verbreiteten Vorurteil. »Viele türkischstämmige Eltern sind sogar übermotiviert, die wollen, dass ihre Kinder studieren«, erzählt die Sozialarbeiterin. »Die verstehen das deutsche Schulsystem gar nicht«, erklärt Icöz diesen offensichtlichen Widerspruch zwischen Schulkarriere der Kinder und den Zielen ihrer Eltern. »In der Türkei gibt es diese frühe Selektion auf verschiedene Schulformen nicht. Wer will, kann nach der 12. Klasse sein Abitur ablegen und sich danach an einem Aufnahmetest einer Universität versuchen.« Diesen Eltern müsse sie erst einmal ein realistisches Schulziel für ihre Kinder vermitteln.

Ein weiteres Problem bei der Integration gerade von türkischstämmigen männlichen Kindern und Jugendlichen offenbart sich in der Geschlechterfrage. »Vom Kindergarten an sind die Jungs mit Frauen als Bezugspersonen in der Erziehung umgeben; in der Kita ist es die Erzieherin, in der Grundschule die Lehrerin«, sagt Michaela Ghazi. Selbst an den Hauptschulen sei der Männeranteil in den Lehrerkollegien gering. »Wir brauchen dringend männliche Lehrkräfte, die den Jungen ein positives Vorbild sein können«, fordert die Reinickendorfer Lehrerin. Zuhause wachsen die jungen Deutschtürken oftmals in Verhältnissen auf, in denen die Väter bestimmen, in der Schule aber sollen sie auf Frauen hören. Hinzu kommt, so schildern Sozialarbeiter wie Lehrer die Situation, dass auch Migrantenfamilien immer weniger intakt sind; in vielen Familien hat sich der Erzeuger der Kinder entweder aus dem Staub gemacht oder geht seinen Geschäften nach und lässt sich nur gelegentlich in den häuslichen vier Wänden blicken. Am Besten wäre es natürlich, es gäbe genügend pädagogischen Nachwuchs aus der türkischen Community. Doch daran mangelt es auch deshalb, weil von den wenigen Türkischstämmigen, die bis zum Studium gelangen, nur eine Minderheit sich für den Lehrerberuf entscheidet.

Der Jugendforscher Christian Pfeiffer weist aus diesem Grund auf den Anteil des dreigliedrigen Schulsystems an den Integrationsdefiziten bei der türkischen Migrantengemeinde hin. In seiner jüngsten Studie stellt er fest, dass der Anteil der jugendlichen Türken an den Gewalttätern in Hannover zwischen 1998 und 2005 von 15 auf sieben Prozent gesunken ist, während im gleichen Zeitraum die Quote von türkischen jugendlichen Mehrfachtätern in München von sechs auf zwölf Prozent stieg. Der Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts macht dafür vor allem die unterschiedliche Bildungspolitik in Niedersachsen und Bayern verantwortlich. In Hannover besuchten mittlerweile 52 Prozent der 15-jährigen Türkischstämmigen eine Realschule und statt früher acht gingen jetzt 15 Prozent eines Jahrgangs auf ein Gymnasium. In München dagegen sank der Anteil der jungen Deutschtürken, die den Sprung aufs Gymnasium schaffen, in den letzten zehn Jahren von 18 auf 12,6 Prozent.

In der Realschule, vor allem aber auf dem Gymnasium, sei die soziale Zusammensetzung der Schülerschaft deutlich günstiger, erklärt Pfeiffer den Zusammenhang von Kriminalitätsentwicklung und Schulkarriere. »Damit sind die Schüler auch positiveren sozialen Einflüssen ausgesetzt. Sie glauben ganz überwiegend an den schönen Satz ›Jeder ist seines Glückes Schmied‹ und verhalten sich dann entsprechend«, hat der frühere niedersächsische Justizminister in seiner Studie herausgefunden.

Türkische Mittelschicht verlässt den Kiez

Damit sich die durch die Schulen entstandenen sozialen Netzwerke, wie Pfeiffer sie nennt, positiv auf die Integration von Minderheiten auswirken können, bedarf es aber eines anderen Verhaltens der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Die Leiterin der reformpädagogisch orientierten Peter-Petersen-Grundschule in Neukölln, Hildegard Greif-Groß, ist immer wieder mit deutschen Eltern konfrontiert, die ihre Kinder vor der sozialen Mischung an einer normalen Stadtteilschule fernhalten wollen. »Diese Eltern erzählen mir, dass sie ihr Kind bei uns und an der benachbarten evangelischen Grundschule angemeldet haben. Diese arbeitet aber nach einem traditionellen Konzept, unterscheidet sich also von unserer Jenaplan-Schule grundlegend. Im Gespräch wird dann schnell klar, dass es den Eltern nicht um die gute Pädagogik oder bessere Förderung ihres Kindes geht, die wollen nur nicht ihr Kind in eine übliche Stadtteilschule mit mehr als 80 Prozent Migrantenanteil geben.«

Der Bezirksbürgermeister Neuköllns, Heinz Buschkowsky (SPD), beobachtet diese Entwicklung schon seit Langem. Seit Jahren stimmten große Teile der Mittelschichten mit dem Möbelwagen ab und zögen weg, sagt er. Mit der Flucht gerade junger Familien verlasse aber soziale Kompetenz den Bezirk, was sich wiederum negativ auf die Attraktivität der Wohnviertel auswirke. Ein Teufelskreis, in den mittlerweile auch bildungsorientierte Migranten geraten sind, die den Aufstieg in die Mittelschicht geschafft haben oder aus ihr kommen. »Sie telefonieren vor der Einschulung ihrer Kinder die Schulen ab und erkundigen sich nach dem Ausländeranteil.« Wenn der zu hoch ist, wollen sich diese Migranten nicht mehr auf das »Abenteuer Integration« einlassen.

Integrationsstudie

Eine Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung beleuchtet die Erfolge verschiedener Migrantengruppen bei der Integration in Deutschland. Defizite bei der Eingliederung in die Gesellschaft attestieren die Autoren dabei vor allem bei den türkischstämmigen Einwanderern. In dieser Gruppe haben 30 Prozent keinen Schulabschluss, viele gehen ungelernten Tätigkeiten nach. Bedenklich ist vor allem die Tatsache, dass sich diese Werte in der zweiten Generation kaum verbessern. Kritiker der Studie wie der Islamwissenschaftler Bekir Alboga bezweifeln dagegen die Aussage der Studie, wonach Deutsch-Türken schlechter als andere Migrantengruppen integriert seien. In Deutschland lebten mittlerweile viele erfolgreiche türkische oder türkischstämmige Unternehmer, Mediziner, Schauspieler, Autoren und Journalisten, erklärte der Dialogbeauftragte des Moscheen-Dachverbandes DITIB. ND