Sind Jungen die Verlierer?


[KSTA.de, 16.09.09]

Von Sabrina Greifenhofer

Einge Fachleute glauben, dass sich die Schulthemen zu sehr an den Interessen der Mädchen orientieren. manche Pädagogen raten daher heutzutage zu getrenntem Unterricht, zumindest in einigen Fächern.

Im Deutsch-Leistungskurs wird Theodor Fontanes Gesellschaftsroman „Effi Briest“ durchgenommen. Der Tod der jungen Protagonistin ist Hauptthema der Diskussion. Die Schüler sollen eine Beurteilung abgeben.

„Das ist Kitsch!“ Darauf besteht Michael. Es sei total übertrieben, dass die junge Frau am Ende sterbe. Die meisten Mädchen im Kurs widersprechen ihm. Sie finden den Tod angemessen, konsequent, dramaturgisch geschickt.

Nein, dass Mädchen und Jungen unterschiedlich sind, kann wohl niemand bestreiten. Auch in ihren Einstellungen unterscheiden sie sich voneinander. Immer lauter werden die Stimmen, die behaupten, dass eben dieser Unterschied vom Schulsystem übergangen wird. In den Bemühungen um Gleichberechtigung der Mädchen seien die Jungen zu Verlierern geworden.

Statistische Zahlen für die Jahre 2007 und 2008 aus Nordrhein-Westfalen bestätigen diesen Eindruck. 64 Prozent der Förder- oder Sonderschüler waren demnach Jungs. Bei den Absolventen mit Allgemeiner Hochschulreife sieht es anders aus: 56 Prozent waren Mädchen, nur 44 Prozent Jungs.

Um der Sache genauer auf den Grund zu gehen, hat „junge Zeiten“ eine eigene Umfrage unter 50 Schülern gemacht. 57 Prozent finden, dass Mädchen in der Schule bessere Leistungen bringen. Dem Großteil der Teilnehmer an der Umfrage fiel die Einteilung des Fächerspektrums in typische „Jungen- und Mädchenfächer“ sehr leicht. Lediglich 14 Prozent können dem Rollendenken nicht folgen. Sprachen werden meist als „Mädchenfächer“ bezeichnet, Naturwissenschaften als „Jungenfächer“, ebenso Sport, Erdkunde und Geschichte. Die stereotype Einteilung macht zumindest einen „gefühlten“ Unterschied zwischen den Geschlechtern deutlich. Vielleicht halten deswegen 64 Prozent der Befragten Emanzipation immer noch für wichtig. Dies gaben Jungen wie Mädchen zu fast gleichen Teilen an.

Hypothesen darüber, wie es zu einer Benachteiligung von Jungen in Schulen kommt, gibt es viele. Die Rede ist von der „Überemanzipation“, die Jungen in den Hintergrund stellt, und von der zu starken „Feminisierung“ der Lehrapparate. Andere Überlegungen gehen in die Richtung, dass die Idealvorstellung von Männlichkeit Grund für die ungleichen Chancen in der Schule ist. „Coolness“ und Gefühllosigkeit als Erkennungsmerkmale eines „wahren Mannes“ können zu vielen Albereien anregen, die vom Unterricht ablenken. Tobereien und Aktivität interpretieren Erzieher und Lehrer oft als Hang zur Gewalttätigkeit und als Anzeichen für Hyperaktivität.

Eine weitere These: Die Lehrpläne zielten zu sehr auf kommunikative Fähigkeiten ab, praktische Arbeit werde stark vernachlässigt. Handwerkliche und körperliche Kompetenzen erhielten sogar einen negativen Beigeschmack. Jungen hätten bei dieser Gewichtung von Anfang an schlechtere Chancen. Hinzu komme, dass sich die Schulthemen eher an den Interessen der Mädchen orientieren. Das könne sich bereits in einem Diktat auswirken: Viel zu selten gehe es inhaltlich um Themen, die Jungen ansprechen: Fußballspiele, Ritterkämpfe oder Autorennen. Die besten Leistungen würden aber erbracht, wenn der Prüfling einen Bezug zum Thema habe.

Wenn dem so ist, dann wird die Verkürzung der Schulzeit an Gymnasien die Lage eher noch verschärfen. Der gleiche Stoff muss nun noch schneller durchgenommen werden; ein weiterer Triumph der Theorie zulasten der Praxis. Auswirkungen hat das auch auf den Arbeitsmarkt: Aufgrund guter Schulabschlüsse haben Mädchen mehr und mehr die freie Wahl, den Jungen bleiben nur die hinteren Plätze.

Das Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen hat im Januar „Maßnahmen zur Jungenförderung“ zusammengestellt. Der Schwerpunkt liegt auf der Angleichung der Lesekompetenz, da die Pisa-Studie im Jahr 2006 auf ein starkes Defizit der Jungen in diesem Bereich aufmerksam gemacht hat. Auch „geschlechtssensibler“ Sportunterricht, die Förderung der Berufsorientierung, sensible Lehrerausbildung und gezielte Projekte für Jungs sollen deren Situation verbessern. Außerdem sollen mehr Männer an Grundschulen unterrichten.

Reicht das aus, oder muss man sogar mit dem Gedanken spielen, getrennten Unterricht einzuführen? Die „coole“ Maske der Jungen würde dadurch fallen. Selbstvertrauen könnte sowohl von Jungen als auch von Mädchen in Fächern getankt werden, in denen bislang das andere Geschlecht glänzte. Andererseits bietet auch die Koedukation, der gemeinsame Unterricht von Jungen und Mädchen, eine Fülle von Möglichkeiten. Jungen und Mädchen können viel voneinander lernen, ihre Stärken und Schwächen kennen lernen. Bei getrenntem Unterricht droht die Gefahr, dass sich die Gegensätze weiter verschärfen.

Der Diplom-Pädagoge und Hauptschullehrer Marc Böhmann hat in Testläufen mit Schulklassen festgestellt, dass bei teilweisen Trennungen der Klassen Leistungen und Unterrichtsengagement in beiden Geschlechtsgruppen zunahmen. Darum befürwortet er eine themenabhängige Spaltung, etwa im Sportunterricht oder bei der Literaturbesprechung.

Unsere Umfrage unter den Jugendlichen liefert jedoch ein eindeutiges Ergebniss: Vollkommen getrennten Unterricht lehnen über 90 Prozent der Befragten ab.