[Stuttgarter Zeitung, 27.08.2010 ]
Stuttgart - Mit Jungen wird hilflos umgegangen, sagt die FDP-Politikerin Miriam Gruß. Deshalb zeigen sie oft Schwächen.
Frau Gruß, die Koalition will eine "eigenständige Jungen- und Männerpolitik" entwickeln. Bis jetzt hört man wenig davon.
Jungs sind oft Bildungsverlierer, und das wollen wir ändern. Bildung beginnt im frühen Kindesalter. Deshalb bereiten wir diesen Sommer einen gemeinsamen Antrag der Koalitionsfraktionen vor, der die Qualität der frühkindlichen Bildung verbessern soll. Im Herbst wird er vorgelegt.
Die soziale Herkunft stigmatisiert, und Frauen werden im Job schlechter bezahlt und in Führungspositionen selten gesehen. Weshalb muss man die Jungen- und Männerpolitik intensivieren?
Leider ist es so, dass gerade in Deutschland ein Zusammenhang besteht zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg. Aber wer sagt denn, dass wir uns darum nicht mehr kümmern? Auch das Thema Gleichberechtigung von Frauen soll nicht vernachlässigt werden. Aber die Jungen muss man gleichwohl verstärkt in den Blick nehmen, weil wir feststellen, dass ihre spezifischen Potenziale nicht ausreichend im Bildungssystem gefördert werden. Mädchen lesen sehr viel besser. Mädchen werden in der Regel schneller schulreif. Wir stellen fest, dass Mädchen mit persönlichem Versagen leichter umgehen, Jungen reagieren mit Frust. Der Anteil von Jungen, die eine höhere Schullaufbahn einschlagen, ist geringer. Die Mehrheit der Studierenden ist weiblich. Das kehrt sich erst um, wenn sich für Frauen die Kinderfrage stellt.
Vielleicht werden Jungen gar nicht benachteiligt, vielleicht sind sie, zugespitzt formuliert, nur dümmer und fauler als Mädchen?
Das ist Unsinn. Jungs werden oft nicht entsprechend ihren Fähigkeiten gefördert. Es ist so, dass Jungen und Mädchen unterschiedliche Herangehensweisen haben. Jungen sind oft rabaukiger, lauter, haben andere Spielformen als Mädchen.
Was brauchen Jungen, um Tritt zu fassen?
Der Bund ist da nicht in erster Linie zuständig. Bildung ist Ländersache, und deshalb brauchen wir eine Zusammenarbeit mit den Länderministerien. Wir müssen geschlechtsspezifische Unterrichtsmethoden entwickeln, die traditionelle Geschlechterrollen und Stereotypen infrage stellen. Wir brauchen Fortbildung für Erzieher und Lehrer, um auf die Bedürfnisse beider Geschlechter einzugehen. Außerdem müssen wir das Lesen der Jungen gezielt fördern. Wir brauchen einen höheren Anteil von Männern in pädagogischen Berufen, die auf ihre Geschlechtsgenossen adäquat eingehen können.
Wie wollen Sie Männer motivieren?
Das Missverhältnis liegt zum Teil an der schlechten Bezahlung. Ich bedaure das, denn die Erzieherinnen und Erzieher gehen täglich mit unseren Kindern, also mit der Zukunft Deutschlands, um. Also müssen wir mit einer besseren Ausbildung und einer adäquaten Bezahlung Anreize setzen. Es muss aber auch der Stigmatisierung, der Ausgrenzung von Männern, die sich solche Berufe aussuchen, entgegengewirkt werden. Das traditionelle Denken verortet einen Mann eben eher in einer Polizeistation als in der Krabbelgruppe. Das muss sich ändern. Wir brauchen Männer in Schulen und Kindergärten.
Es gibt kaum Beweise dafür, dass der Bildungsrückstand von Jungen auf die Vormacht von Frauen in pädagogischen Berufen zurückzuführen ist. Manche sprechen von einem Modethema. Ist es das?
Nein. Es spricht viel dafür, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Bildungsrückstand von Jungs und dem Fehlen von männlichen Vorbildern gibt. Mit verhaltensauffälligeren Jungs wird oftmals hilflos und unbeholfen umgegangen. Es wird viel zu häufig und zu schnell ADHS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, d.Red.) konstatiert. Die Jungs werden dann mit einer Pille ruhiggestellt. Das ist nicht die richtige Antwort auf diese Herausforderung. Das heißt nicht, dass wir die Mädchen nicht fördern müssen, wir müssen den Blickwinkel erweitern.
Unter fehlenden Rollenbildern leiden doch auch Mädchen...
Deshalb spricht viel dafür, Phasen des Unterrichts geschlechtsspezifisch abzuhalten, also Jungs und Mädchen zu trennen.
Wie soll das denn praktisch ablaufen?
Es ist zu überlegen, einzelne Unterrichtsstunden oder Themenzüge rein männlich oder rein weiblich zu unterrichten. Nun bin ich nicht dafür, eine generelle Trennung einzuführen, aber bestimmte Themen eignen sich schon dafür.
Zum Beispiel?
Es kann sinnvoll sein, beim Thema Aufklärung und Sexualität in der Pubertät die Jungs und die Mädchen unter sich zu lassen. Gegen gemeinsamen Matheunterricht spricht im Grundsatz nichts. Aber Mädchen tun sich in Mathe tendenziell schwerer, und vielleicht verstehen sie die Zusammenhänge in einer reinen Mädchengruppe besser. Sie trauen sich dann eher, Fragen zu stellen, weil ihnen das vor den Jungs peinlich wäre. Die Schulen müssen solche Formen ausprobieren können.