Jungen im Nachteil

[Bayerischer Rundfunk, 28.10.2008]


Zwei Drittel der Schulabbrecher in Deutschland sind Buben, bei den Förderschülern stellen sie sogar drei Viertel. Auch in den Hauptschulen sind sie mit 56 Prozent die Mehrheit, an den Gymnasien dagegen in der Minderzahl. Jungen bleiben häufiger sitzen und verweigern sich der Schule. Droht im deutschen Bildungssystem eine "Jungenkatastrophe"?
Die Statistiken vermitteln für Buben ein düsteres Bild: In der Schule sind sie auf dem absteigenden Ast. Die Zukunft scheint den Mädchen zu gehören. Die Wirklichkeit ist jedoch differenzierter, sagt Waltraud Cornelißen, Leiterin der Forschungsgruppe Gender und Lebensplanung am Deutschen Jugendinstitut München.

Jungen zeigen ihr zu Folge nämlich ein deutlich größeres Leistungsspektrum als Mädchen: "Bei den Jungen gibt es mehr sehr schlechte und schwache Schüler, aber auch mehr sehr gute Schüler. Wegen dieser Spitzengruppe ist es nicht angebracht, von einer Jungenkatastrophe zu sprechen." Auch Miguel Diaz, der Bielefelder Soziologe und Projektkoordinator des Bundesprojekts "Neue Wege für Jungs", warnt vor solchen Schlagworten: "Das schmiedet eine Homogenität, die es überhaupt nicht gibt. Jungen sind vielfältig und wir müssen sie auch genau so behandeln."

Alles besser durch mehr männliche Lehrer?

Warum schneiden Buben aber in der Schule schlechter ab als Mädchen? Die Ursachen sind in der Wissenschaft umstritten und empirisch kaum erforscht. Ein häufig genannter Vorschlag zur Lösung des Problems lautet: Mehr Männer als Lehrer und Erzieher einstellen! Waltraud Cornelißen zweifelt aber, dass dies automatisch zu mehr Schulerfolg bei Jungen führt: "Man kann nur feststellen, dass der gesamte pädagogische Bereich für Jungen über Jahre hinweg nur mit Frauen besetzt ist. Erst sind es die Mütter, dann die Kindergärtnerinnen. Auch an der Grundschule ist die übergroße Mehrheit des Lehrpersonals weiblich." Einen Beleg, dass dies die Leistungen der Buben negativ beeinflusst, gebe es aber nicht.

Mädchen waren schon früher besser

Auch Miguel Diaz glaubt nicht, dass mehr männliche Lehrer mehr Erfolg für männliche Schüler bedeutet: "Die Leistungsunterschiede sind gerade in den Schultypen am ausgeprägtesten, wo der Männeranteil relativ hoch ist, etwa am Gymnasium. An den Schultypen wie der Grundschule, die deutlich weiblich dominiert sind, sind sie viel geringer." Außerdem sind erfolgreiche Mädchen nichts Neues: Bereits in den 60er-Jahren - damals lag der Anteil männlicher Grundschullehrer noch bei 54 Prozent - hatten sie die besseren Noten. Höhere Abschlüsse machen sie aber erst seit den 70er-Jahren, als die gezielte Mädchenförderung begann, vom getrennten Unterricht in den Naturwissenschaften bis hin zum "Girls' Day" für eine offenere Berufswahl.

Überkommene Rollenklischees

Der Soziologe Miguel Diaz hat eine andere Erklärung für das Zurückbleiben der Jungen. Manche orientieren sich an Normen von Männlichkeit, die mit heutigen Schulnormen kollidieren: "Das liegt am traditionellen männlichen Verhalten, das dem Lernen in der Schule nicht besonders förderlich ist: dominant zu sein, auffällig zu sein. Wir stellen bei Jungen häufig fest, dass sie, wenn sie vorne nicht mithalten können, sich nicht ins Mittelfeld begeben, sondern versuchen, ganz hinten Spitze zu sein" - zum Beispiel als Klassenclown. Ein weiterer Grund für mangelnde Leistungen ist der hohe Medienkonsum von Jungen. Er reduziert nicht nur die Zeit für das Lernen. Viele Computerspiele vermitteln darüber hinaus unrealistische und problematische Männlichkeitsbilder.

Brave Mädchen werden belohnt

Zum Teil sorgt aber auch das Schulsystem selbst dafür, dass aufmüpfige Jungen im Nachteil sind. Selbst bei gleichen Kompetenzen werden sie nicht so gut bewertet – auch von Männern. In den Bundesländern, die Kopfnoten eingeführt haben, schneiden Jungen deutlich schlechter ab. "Es gibt eine Bevorzugung der Mädchen in unserem pädagogischen Klima: Sie sind angepasster. Anpassung wird belohnt, obwohl in der realen Welt Nichtanpassung und Kreativität belohnt werden", sagt der Jugendpsychologe und Therapeut Wolfgang Bergmann aus Hannover. Für ihn geht die Schule an der Lebenswirklichkeit vorbei, und Jungen reagieren darauf heftiger als Mädchen.

Jungenförderung: Stärkung des schwachen Geschlechts

Um beide Geschlechter spezifisch fördern zu können, setzt die Schulforschung darauf, Jungen und Mädchen im Unterricht zeitweise zu trennen: "Erstaunlich ist, dass sich in der Regel die Jungen und die Mädchen in Anwesenheit des anderen Geschlechts so verhalten wie es geschlechtsstereotyp ist", so Barbara Koch-Priewe von der Universität Bielefeld. Die Arthur-Kutscher-Realschule in München hat es ausprobiert und splittet Schülerinnen und Schüler in der Pubertät im Biologie- und Fremdsprachenunterricht auf. So ist der Sexualkundeunterricht offener und in den Sprachen beteiligen sich die Jungen eher, wenn die redegewandten Mädchen fehlen.

In den gemischten Klassen verhalten sich die Buben in einem gewissen Alter oft "noten-schädlich". Hildegard Hain vom St.-Anna-Gymnasium in München spricht aus Erfahrung: "In gewisser Hinsicht sind Mädchen vorsichtiger, lernen mehr, gleichmäßiger und sinnvoller - während Buben risikofreudiger sind und zum Größenwahn neigen und denken, 'das lerne ich am Wochenende'. Das führt zu einem unterschiedlichen Leistungsniveau zwischen Buben und Mädchen." In einer reinen Jungenklasse hingegen sehen sich die Schüler als ebenbürtige Rivalen. So haben sie einen Ansporn, mit den anderen zumindest mitzuhalten - wenn nicht sogar besser zu sein.

Mit der männlichen Jugend geht's bergab: Die Buben werden in der Schule immer schlechter, der Vorsprung der Mädchen wächst. Stehen wir vor einer "Jungenkatastrophe"?