DIE MÄNNLICHKEITSLÜCKE

Das Weltbild rutscht: Frauen sind auf dem Vormarsch

[NewePresse, 30.05.2008]

Von Ralf Müller


Die Verwirrung wird langsam komplett: Sind die Jungen nun das starke oder das schwache Geschlecht? Werden die Mädchen weiter benachteiligt oder inzwischen sogar bevorzugt? Fest steht, das seit Jahrhunderten festgefügte Weltbild ist ins Rutschen gekommen. Jungen, behauptet der Coburger Buchautor und promovierte Germanist Andreas Gößling (50), „werden von unserem Betreuungs-, Erziehungs- und Bildungssystem benachteiligt“.

So provozierend sind die Thesen, die Gößling in seinem neuen Buch „Die Männlichkeits-Lücke“ aufstellt inzwischen gar nicht mehr. „Mädchen sind schon seit längerer Zeit die Leistungsträger“, bestätigte Bernhard Bueb, ehemaliger Leiter der Schule Schloss Salem und ebenfalls Buchautor, bei der Vorstellung der „Männlichkeitslücke“ in München. Die moderne Dienstleistungsgesellschaft brauche zudem eher die Eigenschaften, die Mädchen mitbringen. Das Karriere-Ideal sieht Bueb heute irgendwo „zwischen Typ Maggy Thatcher und Ursula von der Leyen“.

Die Zahlen scheinen eindeutig: Von 1970 bis 2001 ist der Anteil männlicher Schüler an den Gymnasien von 56 auf 46 Prozent abgestürzt während die Quote männlicher Hauptschüler von 51 auf 56 Prozent anstieg, hat Gößling recherchiert. 60 Prozent der Sitzenbleiber und 65 Prozent der Schulabbrecher sind männlich. 12,3 Prozent der männlichen Jugendlichen waren 2003 arbeitslos, aber nur 8,6 Prozent der weiblichen. Die „Jungenkrise“ drückt sich nach Ansicht Gößlings aber auch in einem fast hundertprozentigen Monopol der Jungen auf Gewalt aus. Jungen seien öfter krank und anfälliger für das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom. Gößling benennt auch die Ursache: „Die Balance zwischen männlichen und weiblichen Elementen in Kultur und Bildungssystem ist in Schieflage geraten.“
Die Männer, waren sich die Experten bei der Präsentation der „Männlichkeitslücke“ einig, hätten sich weitgehend aus der Kindererziehung zurückgezogen. In der Regel ließen sie sich in der Familie kaum sehen, seien im Kindergarten und der Grundschule praktisch nicht existent und sogar in weiter führenden Schulen wie dem Gymnasium sei die weibliche Pädagogik auf dem Vormarsch. In Kindergärten, schildert Gößling in seinem Buch, stürzten sich die Jungen „wie Verhungernde“ auf jeden jungen Mann, der dort seinen Zivildienst ableistet, oder jeden Hausmeister, der etwas reparieren solle: Und sie reagieren tief enttäuscht, wenn die vermeintliche Lichtgestalt bald darauf wieder verschwindet“. Das durchschnittliche Maß an Zeit, das Väter ihren Söhnen widmeten, sei „erbärmlich“, stimmte Bueb zu. Eine feministische Verschwörung wollte Gößling hinter dieser Entwicklung nicht sehen. Das ändere nichts daran, dass das männliche Element in der Kindererziehung gestärkt werden müsse.

Männliche Schüler, behauptet Gößling, seien nicht nur im Schnitt schlechter als die weiblichen Altersgenossinnen, sie würden auch schlechter benotet. Zumindest dann, wenn sie von einer Lehrerin unterrichtet werden. Für diese Behauptung stützt sich der Autor unter anderem auf eine Grundschul-Lese-Untersuchung aus dem Jahr 2005, wonach Jungen in den vierten Klassen der Grundschulen bei gleicher Leistung in Deutsch und Sachkunde signifikant schlechtere Noten als Mädchen erhielten. In Brandenburg wurden Jungen bei gleicher Leistung um fast 20 Prozent schlechter eingestuft als Mädchen. Dort betrage der Anteil weiblicher Lehrkräfte 93,3 Prozent. In Baden-Württemberg, wo „nur“ zwei Drittel der Grundschullehrer Frauen sind, lägen die Jungen nur um 7,2 Prozent hinter den Mädchen zurück.

„Die Schule ist was für Mädchen“, zitiert Gößling in seinem Buch einen Schüler. Ex-Schuldirektor Bueb sieht das auch ein wenig so. Die deutsche Schule, sagte er, sei eine „Belehrungs- und keine Charakterschule“, was den Mädchen deutlich mehr entgegenkomme als den Jungen. In Deutschland habe man „nicht den Mut, die Schüler etwas erleben zu lassen“. Aber nur dadurch könnten sie ihr Selbstwertgefühl stärken, nicht mit einer „akademisierten Bildung“.

„Wenn wir es nicht bald schaffen, unseren Söhnen zu helfen, werden die damit verbundenen Probleme unser Sozialgefüge noch nachhaltiger erschüttern, als sie es ohnehin schon tun“, warnt Buchautor Gößling. Nicht alle freilich sehen die Folgen der „Männlichkeitslücke“ so dramatisch. „Seit eh' und je haben es die Jungen viel schwerer, erwachsen zu werden“, wehrte bei der Buchvorstellung die große alte Dame der Liberalen und Ex-Bildungspolitikerin Hildegard Hamm-Brücher dagegen, das Thema „zum Hauptthema der Bildungsmisere“ hochzustilisieren: „Ich sehe schon wieder 10 000 Talkshows kommen, die sich damit beschäftigen und nichts passiert“.

Das Forum Bildungspolitik in Bayern hat in einer Petition an den Bayerischen Landtag eine bessere Förderung der Jungen gefordert. In drei Jahrzehnten der Mädchenförderung habe sich gezeigt, dass Mädchen im Durchschnitt für den Ausbildungs- und Bildungsprozess besser geeignet seien als Jungen, sagte Forumssprecher Albin Dannhäuser. Für die Tätigkeit in allen Erzieher- und Lehrerberufen müssten mehr Männer gewonnen werden. Darüber hinaus müsse der phasenweise getrennte Unterricht für Jungen und Mädchen ausgebaut werden, so Dannhäuser. Spezifische Jungentexte dürften in Schulbüchern „nicht unterrepräsentiert“ sein.

Andreas Gößling: Die Männlichkeitslücke, Zabert Sandmann-Verlag,, 240 Seiten, 16,95 , ISBN: 978-3-89883-199-4.

Von Gößling sind unter anderem erschienen: „Faust, der Magier“, 2007, „Der Sohn des Alchimisten“, 2007, „Die Maya-Priesterin“, 2002