[FR-Online, 01. Juni 2010]
Professor Richter, dass Hauptschülerinnen am unteren Ende der sozialen Skala stehen, überrascht nicht. Aber dass sie auch noch kränker sind als etwa Gymnasiasten, gibt einem zu denken.
Hauptschüler gehören sehr häufig auch zu den sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen. Jetzt zeigt sich, dass sich zu dieser Last noch eine gesundheitliche Benachteiligung gesellt. Es werden weitere folgen. Überraschend ist das nicht. Hauptschülerinnen sterben ja auch vier Jahre früher als Abiturientinnen, wie wir aus einer Studie des Robert-Koch-Instituts (RKI) wissen. Und unsere Ergebnisse zeigen, dass elf- bis 15-jährige Hauptschüler ein etwa doppelt so hohes Risiko haben, gesundheitlich belastet zu sein als Gymnasiasten. Das ist dramatisch.
Sind Ihre Ergebnisse denn belastbar? Schließlich stützen Sie sich lediglich auf die Einschätzung der Schüler selbst.
Natürlich gibt es bei Selbstauskünften immer das Risiko Antworten zu bekommen, die als "sozial erwünscht" eingeschätzt werden. Aber da wir den Jugendlichen Anonymität garantiert haben und weder Eltern noch Lehrer die Fragebögen zu Gesicht bekamen, halte ich den Ehrlichkeitsgehalt für hoch. Sicher geben die Daten ein subjektives Bild, aber an genau diesem Bild waren wir auch interessiert. Statistische Routinedaten hätten uns diese Antworten, die Sichtweise der Heranwachsenden, nicht ermöglicht. Zudem zeigen unsere Ergebnisse einen hohen Deckungsgrad mit Daten von Studien, die neben subjektiven Daten auch "objektivere" Indikatoren verwendeten, etwa die Kiggs-Studie des RKI.
Mehrmals wöchentlich Schlafstörungen, Kopf- und Rückenschmerzen, Schwindel, Übelkeit - das geben 22,6 Prozent der Jugendlichen an und 36 Prozent der Hauptschülerinnen. Liegt das auch daran, dass Pubertierende nun mal besonders auf ihren Körper fixiert sind?
Die sozialen Unterschiede beeinflussen die Pubertät ja nicht. Aber natürlich spielt sie eine Rolle. Zum Beispiel, wenn sie besonders früh einsetzt, mit zehn oder elf, dann bedeutet das ein höheres Risiko für eine gesundheitliche Belastung. Die Jugendlichen müssen sich früher mit ihrem Körper befassen, interessieren sich für das andere Geschlecht, entdecken ihre Sexualität. Das ist ein Stressfaktor: Sie werden früh aus der Kindheit ins Haifischbecken des Erwachsenenlebens mit all seinen Anforderungen und Belastungen entlassen.
Wie erklären Sie sich, dass sich vor allem Mädchen oft krank oder schlecht fühlen?
Frauen insgesamt reagieren sensibler auf ihren Körper. Das mag mit ein Grund für den Unterschied sein. Aber: Mädchen verarbeiten Stress auch anders als Jungs. Mehr in den Körper rein. Jungs weichen eher aus. Reagieren sich ab, spielen Fußball oder raufen. Aber sie haben auch ein höheres Risiko, sich in Alkohol und Drogen zu flüchten.
Was schlagen Sie vor, um jetzt gegenzusteuern?
Gesundheitspolitisch allein kann man da wenig ausrichten. Den Jugendlichen zu sagen, sie sollen nicht trinken und nicht rauchen, wird kaum etwas nützen. Das Übel muss an der Wurzel gepackt werden. Es geht um eine fairere Verteilung von Macht, Geld und Bildung.
Wie verteilt man Bildung gerechter? In Nordrhein-Westfalen wird ja gerade wieder einmal über ein längeres gemeinsames Lernen gestritten.
Unser unsägliches Schulsystem, das soziale Selektion noch verstärkt, muss endlich erneuert werden. Wie, muss man sehen. Einige Bundesländer haben ja die Hauptschule endlich abgeschafft. So drastische Ergebnisse hätten wir in Ganztagsschulen sicher nicht erhalten.
Kann Bildung soziale Selektion verhindern?
Nein, das wohl nicht, aber sie kann sie mildern. Soziale Verhältnisse sind veränderbar. Schule kann helfen, diesen Prozess zu fördern, schließlich kann sie ihn auch verstärken, wie wir spätestens seit Pisa wissen.
----
Matthias Richter ist Professor für Medizinische Soziologie an der Universität Bern und Mitautor der an der Uni Bielefeld entstandenen Studie "Psychosoziale Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen in Nordrhein-Westfalen: Die Bedeutung von Alter, Geschlecht und Schultyp". Befragt wurden 4300 Schüler im Alter von elf bis 15 Jahren.
Danach leidet jeder fünfte Heranwachsende an Problemen der psychosozialen Gesundheit.
Am stärksten belastet seien Mädchen und Hauptschüler. So schätzten zwar 85 Prozent aller Teilnehmer ihre Gesundheit als gut oder sogar ausgezeichnet ein. Doch nur zehn Prozent der Gymnasiasten bewerteten ihre Gesundheit eher negativ, aber 21 Prozent der Hauptschüler. Fragten die Forscher nach konkreten Symptomen wie Kopf- oder Rückenschmerzen, Schlafstörungen oder Nervosität, stieg die Zahl der Betroffenen: An mindestens zwei solcher, mehrmals wöchentlich auftretenden Probleme litten fast 27 Prozent der Mädchen, im Vergleich zu rund 18 Prozent der Jungen.
Während nur zwölf Prozent der Gymnasiasten mit ihrem Leben haderten, war Unzufriedenheit unter den Hauptschülern mit 28 Prozent mehr als doppelt so weit verbreitet.
Die "unfaire Verteilung von Bildung, Macht und Geld" hat Richter als Übel erkannt, das an der Wurzel gepackt werden müsse: "Unser unsägliches Schulsystem, das Selektion noch verstärkt, muss endlich erneuert werden." fra